Wer hat noch keine Diskussion erlebt, in der eine oder einer der TeilnehmerInnen sich in leidenschaftlicher, manchmal irrationaler Form über die Gefahr, die der Islam für das Abendland bedeutet, ereifert? „Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung“, titelte das Weltblatt „Spiegel“ vor einigen Jahren, mit einem türkischen Halbmond über dem Brandenburger Tor. Auf einer Fahrt mit der U-Bahn in Wien erlebte ich, wie ein „echter“ Wiener älteren Semesters, mit Pseudo-Goldketten behangen, eine türkische Frau beschimpft. Als ich ihn wegen seines Verhaltens zur Rede stelle, und erstaunlicherweise auch andere Fahrgäste sich gegen ihn wenden, stößt er beinahe weinerlich hervor: „Wartet nur, in zwanzig Jahren werden sie (die Muslime; Anm.) uns alle beherrschen!“ Die (einst) bewundernswerte linke Feministin und Schriftstellerin Oriana Fallaci schmäht im Alter die schmutzigen antisemitischen Muslime und stellt ihrer Verkommenheit die Hochkultur des Westens entgegen.
Das Thema der „Gefahr aus dem Orient“ ist nicht nur äußerst emotionsgeladen und Stoff für hitzige Debatten; die offenkundige Irrationalität der Argumentation weist darauf hin, dass die Gründe der Angst tief in der Psyche der Betroffenen verankert sein müssen. Die Emotionalität der Auseinandersetzung macht es schwierig, die wahren Gefahren von den eingebildeten zu unterscheiden.
Die gegenwärtige Debatte um Israels Vernichtungsfeldzug gegen die Hamas im Gaza-Streifen zeigt auf, wie schnell undifferenzierte Verallgemeinerungen und kollektive Zuschreibungen eine Diskussion bestimmen können.
Eines Vormittags kam ein palästinensischer Gast, der einige Wochen bei mir wohnte, freudestrahlend in mein Arbeitszimmer und berichtete, er habe eben das Wohnhaus Hitlers gesehen, ganz in der Nähe von hier (in der Stumpergasse im 6. Wiener Bezirk). Es schien, als hätte er gerade eine Wallfahrtsstätte besucht. Dennoch lässt sich der Nahostkonflikt nicht auf den Antisemitismus reduzieren, arabischer Nationalismus und Islamismus sind keine Wiedergeburt des Nationalsozialismus. Für John Bunzl, Mitherausgeber des Buches und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien, handelt es sich bei dem „islamischen“ Antisemitismus vielmehr um einen Kriegsrassismus, entstanden in den kolonialen Kriegen, die Israel seit 1948, der Geburtsstunde des Staates, gegen die Palästinenser führte. Es ist wohl kein Zufall, dass die Vorstellung von den Arabern als wahre Erben der Nazis gerade in Deutschland eine besondere Resonanz gefunden hat.
John Bunzl / Alexandra Senfft (Hg.):
Zwischen Antisemitismus und Islamophobie, VSA Verlag, Hamburg 2008, 255 Seiten, € 20,50
Die Tatsache, dass das jüdische Volk ein anderes verdrängte, ist eine historische Tatsache und kann nur durch einen historischen Kompromiss geheilt werden, sagt Herbert Kelman. Der in Wien geborene Jude, später Professor für Konfliktanalyse und
-lösung an der Harvard-Universität, ist eine Stimme der Betroffenheit und der Vernunft. In seinen Überlegungen wird deutlich, wie sehr seine Vermittlungstätigkeit zwischen Israelis und Palästinensern durch die Erfahrung der antisemitischen Verfolgung geprägt ist.
Die Texte von Alexander Pollack, Soziologe an der Uni Wien, und Elisabeth Kübler, die in Wien und Tel Aviv Judaistik studierte, beziehen sich auf eine Studie des in Wien angesiedelten Europäischen Beobachtungszentrums für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC), wobei ersterer den Komplex Antisemitismus und Israelkritik analysiert, während letztere die offiziellen Initiativen europäischer Institutionen gegen Antisemitismus untersucht.
Der in den USA unterrichtende Anthropologe Matti Bunzl zeigt die Unterscheidungsmerkmale zwischen Antisemitismus und Islamophobie auf; Brian Klug aus Oxford dekonstruiert die Idee vom „neuen Antisemitismus“.
Ein Buch mit vielen klugen und differenzierten Stellungnahmen und Sichtweisen über das im Titel angesprochene Spannungsfeld. Wobei ein Teil der Beiträge einen stärkeren Europa-Bezug hat und die Thematik im Kontext von Migration und Multikulturalismus behandelt, während andere sich mehr mit der Wahrnehmung von Betroffenen und BeobachterInnen im Nahen Osten befassen.
Ein Buch zur rechten Zeit, dem es zu wünschen ist, dass es zum Verständnis von zwei gesonderten Phänomenen, die gleichwohl viel miteinander zu tun haben, beiträgt und der Debatte um den Dauerkonfliktherd Naher Osten eine solide Grundlage hinzufügt.