Zuhause beim Feind

Von Redaktion · · 2015/12

In Südkorea leben 30.000 NordkoreanerInnen, geflohen aus ihrer ursprünglichen Heimat. Sie müssen den Wechsel vom Sozialismus in den Kapitalismus meistern. Keine einfache Aufgabe, berichtet Johannes Nichelmann aus Seoul.

Jang Seongmu setzt sich seine großen Kopfhörer auf, räuspert sich, nickt seinem Aufnahmeleiter zu. Der zählt laut herunter, dann geht das Rotlicht an und der Radiomoderator verliest die Nachrichten. Die Nachmittagssendung des Seouler Senders „Radio Free Chosun“ beginnt. Die ZuhörerInnen befinden sich in Nordkorea und sollen über die freie Welt und die Untaten ihres Diktators Kim Jong-un informiert werden. Dazu gibt es aktuelle Schlager und koreanische Klassiker. Über Kurzwelle wird ihnen heute mitgeteilt, dass der Norden für seine Waren verbotenerweise das südkoreanische Label „Made in Korea“ verwendet haben soll. Nicht nur, dass die Familie von Kim Jong-un mit Drogen handeln würde, jetzt gebe Pjöngjang somit selbst zu, dass das kapitalistische Südkorea viel besser sei.

Der 61-jährige Jang Seongmu ist selbst Nordkoreaner. Er hat sich auf den gefährlichen Weg ins Ausland gemacht, weil er als Fremdwährungsbeschaffer um sein Leben gefürchtet hatte. Das ist ein wenig angesehener Job, bei dem er durch mehr oder weniger geduldeten Devisenhandel zu etwas Geld gekommen war. Was als antigesellschaftliches Verhalten gilt, hätte seine Hinrichtung bedeuten können, hieß aber zunächst, dass er die Hauptstadt Pjöngjang verlassen musste. Er entschloss sich zur Flucht. Heimlich hörte er nämlich einen Radiosender wie „Radio Free Chosun“ und erfuhrt dort von einer Welt, die hinter den Grenzen Nordkoreas auf ihn wartete. Über China gelangte er vor zwölf Jahren nach Seoul, wo er den Job als Radiomoderator fand. „Leute sind manchmal überrascht, wenn sie hören, wo ich herkomme und sagen Dinge wie: ‚Ah, ich hatte mir einen Nordkoreaner ganz anders vorgestellt. Sie sind gar nicht so.‘ Solche Reaktionen mag ich.“

Mitleid und Gelächter. Laut einer Umfrage des südkoreanischen Ministeriums für Wiedervereinigung sagen nur knapp 19 Prozent der NordkoreanerInnen in Südkorea offen, wo sie eigentlich herkommen. Jang Seongmu gehört zu ihnen, denn nach fast 50 Jahren in Nordkorea will er seine Heimat nicht verleugnen. Er hat sie geliebt.

Die meisten Flüchtlinge fürchten sich vor Stigmatisierungen. In den südkoreanischen Medien werden sie allzu oft als Opfer dargestellt. Im Fernsehen treten Menschen aus Nordkorea nur sehr selten ohne Begleitung von trauriger Klaviermusik auf – ob in Casting-Shows, Dokumentationen oder Nachrichten. Bei „Now on my way to meet you“ auf „Channel A“ beispielweise geht es jede Woche um NordkoreanerInnen, die ihre Geschichte von Hunger und Tod, Verzweiflung und Flucht erzählen. In einer Ausgabe sagt ein Gast, dass er sich nichts sehnlicher wünsche, als wieder so zu leben wie in Nordkorea. Publikum und Moderator brechen in Gelächter aus, ohne sich die genaue Bedeutung dieses Satzes bewusst zu machen. Laut Eigenbeschreibung des Senders soll die knallbunte Show den SüdkoreanerInnen helfen zu verstehen, warum die ÜberläuferInnen Leid auf sich genommen haben, um sich in der Republik Korea, wie Südkorea offiziell heißt, anzusiedeln.

Feind und Nachbar. Den Effekt solcher Fernsehsendungen bei den Zusehenden beschreibt Lee Soojung, Nordkorea-Forscherin an der Duksung Women’s University Seoul, so: „Man sieht Nordkoreaner als minderwertige oder erbärmliche Wesen. Anstatt in einer ebenbürtigen Beziehung, von Mensch zu Mensch, sieht man sie in einer hierarchischen Beziehung.“

Aber auch die Lehrpläne in den Schulen würden zum schlechten Ruf der Flüchtlinge beitragen. „Wenn Sie Schüler fragen, kommt heraus, dass sie selten etwas zu Nordkorea gelernt haben.“ Die Bildungspolitik sei antikommunistisch und gegen Nordkorea ausgerichtet – immerhin befinden sich beide Staaten seit 1953 nur in einem Waffenstillstand, der ab und an in Scharmützeln und Drohungen ausartet. Nämlich immer dann, wenn der Norden seine Raketen testet und der Süden große Beschallungsanlagen mit Propaganda an der gut gesicherten Grenze auffährt – wie erst kürzlich geschehen. Lehrkräfte wüssten nicht, wie sie ihren Klassen das Thema näherbringen sollen. Ist Nordkorea Brudervolk oder Feind?

In Südkoreas Gesellschaft steht der Erfolg im Job ganz oben. Gerade junge Leute geben alles, es gibt einen harten Konkurrenzkampf. Gearbeitet wird fast jeden Tag, auch am Wochenende. Am Abend treffen sich viele Menschen noch auf ein Soju, einen beliebten Branntwein, mit den KollegInnen in einem Straßenlokal. Heute Abend hat sich Kim Pil Ju verabredet und ist mit der immer pünktlichen Hightech-U-Bahn unterwegs zum Treffpunkt. Seoul ist groß, hat über 20 Millionen EinwohnerInnen.

„Die immer mit Musik beschallten Straßen der Metropole gefallen mir sehr“, sagt er, sein Smartphone ständig sicher in der rechten Hand. Eine Nachricht: Sein US-amerikanischer Bürokollege wird seine Freundin mitbringen. Kim Pil Ju kennt sie noch nicht persönlich. Aber kein Problem, er ist ein offener Typ, der immer lächelt und mit seinen Anfang 30 die Neugier eines Teenagers zu haben scheint. Als er, geflohen vor der Hungersnot in den 1990er Jahren, neu nach Seoul kam, hätte er sich am meisten über Paare gewundert, die öffentlich Zärtlichkeiten austauschten. „Das war für mich fremd und unangenehm. Ich bin eher konservativ eingestellt, das war ein großer Schock.“ Inzwischen habe er sich daran gewöhnt.

Gefährliche Flucht. Die U-Bahn fährt in einen oberirdischen Bahnhof ein, die Türen öffnen sich. Aus der Ferne sind Polizeisirenen zu hören und Kim Pil Ju unterbricht seinen Redefluss, dreht sich zu den automatischen Türen, die gerade wieder schließen und das Heulen verstummen lassen. Die Sirenen rufen in ihm schreckliche Erinnerungen an die Flucht wach.

Südkorea ist für aus Nordkorea geflohene Menschen nicht auf dem Landweg zu erreichen. Die Grenze zwischen den beiden Staaten gehört zu den am besten gesicherten der Welt. Die meisten verlassen das Reich von Kim Jong-un über die Grenze zu China. Hier fließt der Fluss Tumen, der im Winter zufriert und somit den Weg ins Ausland frei macht. Die Gefahr ist in China aber nicht vorüber, denn Peking und Pjöngjang haben ein Abkommen, welches besagt, dass die Menschen wieder zurückgeschickt werden, sollten sie entdeckt werden. Die Angst von Kim Pil Ju, in China festgenommen zu werden, war groß – wann immer er Sirenen hörte, versteckte er sich unter Betten und in Schränken. Doch er wird gefasst und ausgeliefert. Die zweite Flucht aber gelingt.

Fremde Wesen. Die U-Bahn stoppt an der Haltestelle Sindorim, Kim Pil Ju steigt aus und sieht am Ende des Bahnsteigs schon seinen Kollegen gemeinsam mit dessen Freundin stehen. Sie ist Südkoreanerin, Ende 20. Die junge Frau kennt Nordkoreaner allenfalls aus dem Fernsehen. Sie hat viele Fragen: „Stimmt es, dass Sie aus Nordkorea stammen?“

Er beginnt zu erzählen, sie unterbricht ihn und will wissen, ob er nach der ersten Flucht nicht gefoltert worden sei. Kim Pil Ju bejaht, sie hält sich erschrocken ihre beiden Hände vor das Gesicht. „Wirklich? Aber wie?“ Kim Pil Ju geht darauf nicht ein, sagt nur, dass er ins Gefängnis hätte müssen. Sie, immer noch ungläubig, wen sie hier vor sich hat, fragt: „Dann haben Sie doch natürlich einen Personalausweis und alles?“ Kim Pil Ju kramt in seiner Tasche und zieht einen Führerschein hervor. Erstaunen bei der jungen Frau. „Sie haben sogar einen Führerschein?“ Kim Pil Ju bejaht auch dies, ein bisschen stolz. Was die meisten SüdkoreanerInnen in Südkorea und die meisten NordkoreanerInnen in Nordkorea nicht wissen: Alle BürgerInnen Nordkoreas sind per südkoreanischem Gesetz auch BürgerInnen Südkoreas. Die nächste Frage: „Hatten Sie Schwierigkeiten bei der Anpassung?“. Die Antwort: „Natürlich gibt es viele Herausforderungen. Es ist halt eine sehr andere Welt.“

Geordnete Integration. Auf diese Herausforderungen hat Youn Miryang drei Jahre lang NordkoreanerInnen vorbereitet. Sie war vor ihrer Pensionierung Leiterin von „Hanawon“, dem Einheitscenter. Dieser Ort liegt 100 Kilometer entfernt von Seoul. Alle NordkoreanerInnen, die in Südkorea ankommen, müssen für drei Monate hierher. Hier lernen sie, wie man einen Bankomaten benutzt, welche Berufe es in Südkorea gibt und was es mit den westlichen Werten auf sich hat. „Der erstaunlichste Punkt für mich war, dass nordkoreanische Flüchtlinge unsere südkoreanische Sprache nicht gut verstehen. Die Bedeutung vieler Wörter hat sich über die Jahre verändert“, erzählt Youn Miryang. In Südkorea haben sich viele Anglizismen mit der Sprache vermischt. Nordkoreanisch klingt für SüdkoreanerInnen sehr altertümlich. Für NordkoreanerInnen ist es deswegen schwer, nicht aufzufallen, weshalb sie hier in Kursen lernen sollen, wie SüdkoreanerInnen zu sprechen. „Wir versuchen außerdem, die Menschen auf die strenge Konkurrenzgesellschaft vorzubereiten. Wenn sie denken, ohne Mühe Geld verdienen zu können, betrügen sie sich selbst“, fährt Youn Miryang fort.

Nach drei Monaten erhalten die NordkoreanerInnen einen Personalausweis, 20.000 US-Dollar Starthilfe und eine Wohnung. In einem Land, in dem die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, in dem sich Altersarmut unaufhaltsam wie eine Epidemie ausbreitet, rufen diese Sozialleistungen bei vielen SüdkoreanerInnen Unverständnis hervor.

Der Radiomoderator Jang Seongmu war 49 Jahre alt, als er nach Südkorea kam. Damals blickten ihn viele SüdkoreanerInnen ungläubig an, einer meinte: „Was wollen Sie denn jetzt noch arbeiten? Sie sind doch viel zu alt.“ Er hatte Glück und wurde an „Radio Free Chosun“ vermittelt. Seine Nachmittagssendung ist gleich zu Ende, wieder setzt er sich die Kopfhörer auf, das Rotlicht geht an. „Meine Damen und Herren, jetzt hören wir ein Lied von ‚Zwei Herzen‘ mit dem Titel ‚Du bist so weit entfernt‘.“ n

Johannes Nichelmann ist freier Journalist aus Berlin und arbeitet unter anderem als ­Feature-Autor und Moderator für den deutschen Hörfunk. 

Twitter: @JoNichelmann

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