Zucker – Die süße Falle

Von Redaktion · · 2004/02

Zucker bedroht weltweit die Gesundheit der Menschen und macht bloß ein paar wenige reich. Wir sollten am besten überhaupt darauf verzichten, meint New Internationalist-Redakteur David Ransom.

Seit sie im frühesten Kindesalter zum ersten Mal Milchzucker schmecken, scheint der Reiz der Süße für Menschen unwiderstehlich zu sein: „I want a little sugar in my bowl“, fleht etwa Nina Simone, „I want a little sweetness down in my soul“. Und zweifellos ist das, was wir gewöhnlich als „Zucker“ bezeichnen, zu etwas gut. Ob Glucose, Fructose oder Saccharose: Wir verdanken dem Zucker Wohlgefühl und Energie, Marmelade und Alkohol. Raffinierter Zucker verschafft Tausenden Menschen Arbeit und einigen Wenigen Reichtum in Überfluss. „Nehmen wir es zur Kenntnis, die Menschen mögen Zucker“, sagt einer dieser Wenigen, Sir Saxon Tate vom britischen Zuckerkonzern Tate & Lyle: „Der Zuckerverbrauch steigt ungeachtet aller fanatischen Attacken von Gesundheitsaposteln.“ Eigentlich merkwürdig, denn schließlich entwickelten die Menschen in etwa ihre heutige physische Gestalt, lange bevor raffinierter Zucker überhaupt erfunden wurde. Selbst ganz ohne ihn würde niemand verhungern, und alle wären um einiges gesünder. Der ganze Zucker, den wir brauchen, kommt natürlich in allem vor, was wir essen. Bei der Raffination der Saccharose und der Produktion anderer „reiner“ Zucker werden jedoch sämtliche Nährstoffe beseitigt. Derart „befreit“, kann Zucker unsere Ernährungsgewohnheiten verändern – und zu einer Bedrohung unserer Gesundheit werden. Ursprünglich, wahrscheinlich in Arabien und Indien, wurde Zucker mit Bedacht genossen. Im spätmittelalterlichen England gehörte eine Prise davon, neben Bier, Brot, Ingwer, Safran, Pfeffer und Salz, zu den Zutaten eines nicht gerade appetitlichen Gerichts namens „Oyster in Gravy Bastard“ (etwa „Austern in falscher Bratensoße“). Aber der Zuckerkonsum verbreitete sich. Im 17. Jahrhundert verwendete der berühmte Meisterkoch Robert May Zucker, um erstaunliche Tafelaufsätze zu schaffen: einen Hirsch, der Blut aus Bordeauxwein vergoss, wenn man einen Pfeil aus seiner Seite zog; vergoldete Zuckerpasteten, die mit lebenden Fröschen und Vögeln gefüllt waren. In ganz Europa wurde der verschwenderische Umgang mit Zucker zu einem kulinarischen Ausdruck von Macht und Prestige. Dann kam der Industriekapitalismus. „Fortschritt“ wurde damit gleichgesetzt, dass möglichst viele Menschen sich jene manchmal abwegigen Bedürfnisse aneigneten, die zuvor bloß dem Macht- und Prestigebedürfnis einiger weniger Leute dienten. Pioniere des heutigen Produktmarketing machten sich unsere Vorliebe für Süßes zunutze und verwandelten Zucker in das erste „Massenkonsumgut“. Heute ist Zucker einer der wichtigsten Faktoren des so genannten „Ernährungswandels“. Dazu gehört der zunehmende Konsum verarbeiteter Nahrungsmittel mit hohem Fett- und Zuckergehalt, die frisches Obst und Gemüse aus unserem Speisezettel verdrängen, und eine Vergrößerung der Portionen. Ein Muffin (Rührteigkuchen) ist heute im Schnitt viermal größer als vor 20 Jahren. Da wir uns außerdem weniger bewegen als früher, führt der Ernährungswandel dazu, dass wir mehr Energie zu uns nehmen als wir verbrauchen. So hat sich der menschliche Körper wieder zu verändern begonnen, und das rasch. Ungenutzte Energie wird im Körper als Fett gespeichert. In einigen Regionen der Welt hat der Anteil der fettleibigen Bevölkerung seit 1980 um das Dreifache oder mehr zugenommen. Zwei Drittel der US-Bevölkerung sind bereits übergewichtig, ein Drittel ist fettleibig; bereits in 15 Jahren könnten drei Viertel der britischen Bevölkerung fettleibig sein. Und andere chronische Krankheiten nehmen ebenso rasch zu, insbesondere der Typ-2-Diabetes, unter dem heute mehr als 90 Prozent der Zuckerkranken leiden. Dabei handelt es sich jedoch nicht um „Wohlstandskrankheiten“, wie vermutet werden könnte. Die selbe Entwicklung ist sowohl in ärmeren Ländern wie auch in den Unterschichten der reicheren Länder festzustellen, hieß es in einem alarmierenden Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO und der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO aus dem Vorjahr. „Außerdem“, warnt der Bericht, „vollzieht sie sich in Entwicklungsländern rascher als in den industrialisierten Regionen der Welt vor einem halben Jahrhundert. Diese rasche Veränderung entwickelt sich, zusammen mit den zunehmenden Krankheitslasten, zu einer wesentlichen Bedrohung der öffentlichen Gesundheit (…)“. Tatsächlich haben wir es mit einem Ergebnis der kapitalistischen Globalisierung zu tun – auch wenn ihre Ähnlichkeit mit einer Infektionskrankheit nur selten erkannt wird. Ein Symptom der Krankheit ist die weltweite Ausbreitung von Supermärkten. In Brasilien stieg der Umsatzanteil von Supermärkten im Nahrungsmitteleinzelhandel in den 1990er Jahren von 30 auf 75 Prozent. In China nahm die Zahl der Supermärkte in den letzten sechs Jahren von Null auf 6.000 zu. MexikanerInnen geben ein Drittel ihres gesamten Haushaltsbudgets in einer einzigen, in den USA beheimateten Supermarktkette aus – bei Wal-Mart. Am einträglichsten für diese Handelsketten ist der Verkauf von Fertigspeisen und verarbeiteten Nahrungsmitteln, die unweigerlich Zucker als kombiniertes Konservierungs- und Lockmittel enthalten. Diese „Convenience“-Produkte sind zusammen für einen größeren Teil unseres Zuckerverbrauchs verantwortlich als der weiße Zucker, den wir bewusst als solchen konsumieren. Auch die Nahrungsmittelindustrie hat sich auf Zucker eingeschworen. 1978 gründete Coca Cola das International Life Sciences Institute (ILSI), dem sich beinahe alle großen Nahrungsmittelkonzerne anschlossen. Irgendwie schaffte es das Institut, bei der WHO und der FAO akkreditiert zu werden. ILSI konnte daher VertreterInnen zu den Vorbereitungstreffen für die erste Internationale Ernährungskonferenz 1992 schicken, darunter hochrangige Manager von Mars und Coca Cola, die zu den bedeutendsten industriellen Zuckerverbrauchern der Welt gehören. Vielleicht kein Zufall, dass der erste „Aktionsplan“ der WHO zur Ernährung von 1990 Zucker nicht einmal erwähnte. Unterdessen wird mit viel Aufwand bereits die nächste Generation bearbeitet. Man braucht nur morgens aufzustehen und sich anzusehen, was den Kindern im Fernsehen angepriesen wird. Wie der WHO/FAO-Bericht feststellt: „Fast-Food-Restaurants sowie Nahrungsmittel und Getränke, die gewöhnlich von Diätrichtlinien unter die Kategorie ‚So wenig wie möglich‘ eingestuft werden, gehören zu den am aggressivsten vermarkteten Produkten.“ Zudem trägt die Zuckerproduktion die zweifelhafte historische Auszeichnung, den Sklavenhandel ins Leben gerufen, die Expansion der europäischen Imperien finanziert und erheblich zur Entwicklung des Kapitalismus beigetragen zu haben. Und im Grunde hat sich seither wenig verändert. Im gesamten Tropengürtel, in Hungergebieten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens sind große Teile der besten Ackerböden nach wie vor von Zuckerrohrplantagen bedeckt, die die lokale Umwelt zerstören und eine Hand voll Leute reich machen – allerdings nicht jene, die tatsächlich die Arbeit leisten. Damit noch nicht genug. Seit dem Niedergang des Welthandels im Zweiten Weltkrieg bemühten sich die reichen Länder des Nordens – die USA und Europa –, ihre eigene „Ernährungssicherheit“ zu erhöhen. Aus unerfindlichen Gründen wurde dabei Rübenzucker als Nahrungsmittel eingestuft. In der Folge entstand ein aus Subventionen, Monopolen, Festpreisen und Handelsschranken bestehendes System, das die Zuckerrübe zu einer der rentabelsten Feldfrüchte machte – und die Zuckerindustrie zu einer außerordentlich einflussreichen Lobby. Um ihre Rohrzucker exportierenden Ex-Kolonien zu besänftigen, bot ihnen die Europäische Union (EU) Importquoten an. Im Gegenzug mauserte sich die EU zum weltgrößten Exporteur von raffiniertem Weißzucker, der die subventionierten Überschüsse zu Dumpingpreisen am Weltmarkt absetzt, was den Zuckerpreis verfallen und ProduzentInnen im Süden verarmen lässt. Reich sind mit Zucker bisher nur Sklavenhändler, Plantagenbetreiber, SpekulantInnen und Nahrungsmittelkonzerne, PR-BeraterInnen und PolitikerInnen geworden. Niemand hat die Armut mit dem Zuckerhandel besiegt, und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass es in Zukunft gelingen könnte. Und selbst wenn: Was würde das für die epidemische Ausbreitung chronischer, zuckerbedingter Krankheiten bedeuten? Vergangenen September jedenfalls scheiterte die Ministerkonferenz der WTO im mexikanischen Cancún erwartungsgemäß an der Weigerung der USA, der EU und Japans, ihre Subventionen und Handelsschranken zugunsten einer breiten Palette ihrer eigenen Industrien wie Stahl, Textilien und Bekleidung oder ihrer Landwirtschaft abzubauen – von der notorischen EU-Zuckermarktordnung ganz zu schweigen. Menschen, die auf Zuckerrohrplantagen arbeiten oder in ihrer Nähe leben, ohne eigenes Land und von Hunger bedroht, könnten durchaus zum Schluss kommen, dass das beste Land eigentlich der Ernährungssicherheit ihrer eigenen Gemeinschaft dienen sollte. Zu nahe liegend vielleicht für WirtschaftsexpertInnen, und viel zu praktisch, zumindest im Vergleich mit den gewaltigen öffentlichen Mitteln, die derzeit zur Aufrechterhaltung der Zuckerbollwerke des Nordens vergeudet werden. Warum nicht einfach diese Mittel für die Konversion der Zuckerplantagen einsetzen? Warum nicht dazu beitragen, dass Landreform, nachhaltige Landwirtschaft und Ernährungssicherheit jetzt Wirklichkeit werden und nicht ein ewig gebrochenes, zynisches Versprechen bleiben? Außerdem warten ja bereits „künstliche“ Süßstoffe aus gentechnisch verändertem US-Mais darauf, den Markt zu erobern – samt den damit verbundenen Problemen. Der Nachfrage nach Rohrzucker aus dem Süden könnte ein weiterer Einbruch bevorstehen. So oder so, früher oder später werden VerbraucherInnen und ProduzentInnen aus der Zuckerfalle entkommen, in der sie festsitzen. Je früher allerdings, desto besser – für die Gerechtigkeit, für die ProduzentInnen im Süden. Nach wie vor sterben weit mehr Menschen an Unter- und Mangelernährung als an zu viel Energie in ihrer Nahrung. Wahrscheinlich wird aber nicht das Streben nach Gerechtigkeit dafür den Ausschlag geben, sondern vielmehr das Interesse der VerbraucherInnen im Norden, die epidemische Ausbreitung chronischer Krankheiten einzudämmen. copyright New Internationalist

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