Ein tiefer politischer Konflikt spaltet das südostasiatische Land seit Jahren. Die Wahlen Anfang Juli werden kein Ausweg aus der Krise sein.
Die AktivistInnen haben Fahrräder im Schlepptau, an den Gepäcksträgern sind Plakate befestigt: „Vote Yes!“ steht darauf. Bevor sich die kleine Gruppe auf die Räder schwingt, verteilt sie Aufkleber an PassantInnen. Mit dabei Phayao Akkhahad. „Ich möchte, dass die Menschen ihre Stimme erheben und für dieses Land erneut eine Demokratie aufbauen“, sagt die 46-Jährige. Ihre persönliche Tragödie ist der Grund, warum sie an diesem heiß-feuchten Nachmittag an der Straßenkreuzung Ratchaprasong steht. Denn diese ist nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt, wo Phayaos Tochter Kamolkate ermordet worden war.
Kamolkate war als freiwillige Krankenschwester im buddhistischen Tempel „Pathum Wanaram“ im Einsatz, als Thailands Armee am 19. Mai 2010 die „roten“ Demonstrationen gewaltsam beendete. Die Nachricht, dass das Militär die von den Rothemden belagerte Ratchaprasong stürmen werde, hatte schon Tage zuvor viele DemonstrantInnen veranlasst, in den vermeintlich sicheren Tempel zu flüchten. Doch Zeugen beobachteten, wie Soldaten in das Gebäude feuerten. Kamolkate wurde erschossen, als sie gerade einem Schwerverletzten half.
Mehr als 90 Menschen mussten letztes Jahr sterben, beklagt Phayao bitter. „Und wofür? Einfach weil die Menschen die Regierung aufgefordert hatten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen.“ Sie ist überzeugt, dass die Regierung das Militär angewiesen habe, Menschen zu erschießen. Nach den Wahlen werde die jetzige Regierung unter Premierminister Abhisit Vejjajiva nicht mehr ins Amt zurück kehren, so Phayao zuversichtlich. Stattdessen hofft sie, dass dann die von den Rothemden unterstützte Partei „Puea Thai“ (Für Thais) an die Macht kommt. Laut den meisten Umfragen wird sie tatsächlich die Wahlen gewinnen. Damit aber dürften weitere politische Konflikte vorprogrammiert sein: Die Spitzenkandidatin der Puea-Thai ist pikanterweise Yingluck Shinawatra, eine Schwester jenes Mannes, den das Militär 2006 gestürzt hatte.
Ein Rückblick: Zwischen März und Mai 2010 hatten die Rothemden, mehrheitlich Anhänger von Ex-Premier Thaksin Shinawatra, gegen die von der „Demokratischen Partei“ geführte Regierung unter Premier Abhisit protestiert. Ihrer Ansicht nach war Abhisit im Dezember 2008 illegitim ins Amt gelangt – durch politische Intrigen und Hilfe des Militärs.
Ein erster Showdown der anfänglich friedlichen Massenproteste ereignete sich am 10. April 2010: Soldaten sollten die roten Demonstranten der „Vereinigten Front für Demokratie gegen Diktatur“, kurz UDD, vertreiben. Mit offiziell 26 Toten endete der Tag im Fiasko. Auf Seiten der Roten hatten AkteurInnen mitgemischt, denen es nicht um die politischen Forderungen der UDD ging: Besagte „Männer in Schwarz“ hatten mit Wissen der UDD-Führung gegen die Regierungssoldaten gekämpft. Bei den „Schwarzhemden“ handelte es sich um militärisch geschulte, gut bewaffnete Kämpfer, entweder aus Reihen der Armee selbst oder aus derem Dunstkreis. Während der anhaltenden Proteste tauchten diese immer wieder auf.
Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) hat die Gewalt vom April und Mai 2010 aufgearbeitet. „Indem die Regierung am 15. Mai ankündigte, eine ‚Live-Fire-Zone‘ einzurichten, hat sie Menschenrechte und internationales Recht verletzt“, kritisierte HRW-Asiendirektor Brad Adams. „Dafür gab es absolut keine Rechtfertigung.“ Gleichzeitig ging Adams mit jenen UDD-Anführern ins Gericht, welche die „Männer in Schwarz“ öffentlich willkommen geheißen hatten: „Die Rothemden behaupteten stets, eine friedliche Bewegung zu sein, dass die ‚Männer in Schwarz‘ nicht existierten oder von der Regierung eingeschleust worden seien. Das ist Propaganda.“
Die Eskalation war die schlimmste seit achtzehn Jahren und ist zugleich Ausdruck einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Die Proteste der außerparlamentarischen UDD richteten sich dabei nicht nur gegen Abhisit, sondern gegen Thailands gesamte konservative Elite aus Technokraten, Aristokraten und Militärs. Als williges Werkzeug der alteingesessenen Kreise erwies sich die so genannte „Volksallianz für Demokratie“ (PAD). Die in Gelb gekleideten PAD-AnhängerInnen agierten 2006 nicht nur als Wegbereiter für den Putsch gegen Thaksin Shinawatra. Sie waren auch maßgeblich mitverantwortlich für den Sturz der neuen, Thaksin-nahen Regierung Ende 2008, woraufhin schließlich Abhisit ins Amt gelangte.
Seitdem aber hat sich die „Volksallianz“ von Abhisit und dessen „Demokratischer Partei“ abgewandt. Mehr noch: Die Beziehungen sind eisig geworden. Die PAD, die nach 2008 stark an Bedeutung verlor, warf Abhisit unter anderem vor, nicht vehement genug die nationalen Interessen Thailands zu verteidigen. Wie zum Beispiel angesichts der Kämpfe zwischen Thailand und Kambodscha um den Hindu-Tempel „Preah Vihear“, auf den beide Länder Anspruch erheben. Hardliner eines PAD-Ablegers riefen gar zum Krieg gegen den Nachbarn auf. Vor den Wahlen initiierte die PAD eine „No Vote“-Kampagne: Ein gewähltes Parlament sei untauglich, weil es nur dazu da sei, gierigen Politikern den Weg zu ebnen. Deswegen sollten die WählerInnen weder den „Demokraten“ noch der „Puea Thai“ ihre Stimme geben.
Abgesehen davon ist Thailands konservatives Establishment ohnehin nicht gewillt, Macht und Wohlstand zu teilen. Sehr zum wachsenden Frust und Zorn der Rothemden, die sich wiederholt um ihre politische Stimme betrogen fühlten. Der Putsch gegen Thaksin, den korrupten und machtverliebten, aber dennoch mehrheitlich gewählten Politiker, hat die politischen Gräben im Lande vertieft.
Eine einheitliche Bewegung sind die Roten indes nicht: Während die Reisfarmer aus dem Norden und Nordosten sowie viele Tagelöhner und kleine Angestellte von einer Rückkehr Thaksins träumen, ist es anderen UDD-Anhängern egal, ob der Ex-Premier jemals wieder die politische Arena betritt. In der roten Bewegung finden sich mittlerweile etliche Angehörige aus den oberen Schichten, die ebenso wie die Armen dagegen ankämpfen, dass der Wohlstand des Landes auf nur wenige verteilt ist und das konservative Establishment seinen Machtanspruch immer wieder durch Militärputsche zu legitimieren versucht.
Wann und wie ein neuer Coup erfolgen könnte, bleibt abzuwarten. Thailands Armee ist tief gespalten, da viele Soldaten mit den Roten sympathisieren. Dieser Umstand dürfte dem seit Oktober 2010 im Amt befindlichen Armeechef General Prayuth Chan-ocha wenig schmecken. Prayuth, mitverantwortlich für die versuchte Niederschlagung der „roten“ Demonstrationen am 10. April 2010, ist als erklärter Gegner der UDD bekannt. Und auch die Rothemden vergessen die Vergangenheit nicht: „Die Armee ist dazu da, das Land gegen Feinde von außen zu verteidigen“, sagt der Arzt Weng Tojirakarn, „aber sie darf nicht gegen zivile Protestbewegungen eingesetzt werden.“ Als führendes UDD-Mitglied war Weng im Mai 2010 für Monate inhaftiert worden. Derzeit ist er auf Kaution frei: Er kandidiert für die „Puea Thai“.
Von thailändischer Seite wurden Untersuchungen über die Gewalt bislang verschleppt oder unter Verschluss gehalten. Die Regierung hatte eine „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ ins Leben gerufen, aber diese hat kein Mandat, Personen vorzuladen oder unter Eid aussagen zu lassen. Ein führendes Mitglied der Kommission ist Somchai Homlaor, ein im Land bekannter Menschenrechtsanwalt. Obwohl er vom Staat ausgesucht wurde, mag er diesem keinen Persilschein ausstellen – im Gegenteil. Zwar sei auch seitens der Rothemden Gewalt ausgeübt worden, dennoch sieht er in Regierung und Militär die Hauptverantwortlichen: „Der Staat hat dabei versagt, Menschenleben zu schützen, sowohl das der Demonstranten als auch der Soldaten“, so Somchai. „Wenn es schon nicht gelingt, Leben zu schützen, müssen die Täter zur Verantwortung gezogen werden.“ Das aber sei bisher nicht geschehen: „Viele Demonstranten wurden von den staatlichen Sicherheitskräften getötet, aber von der Regierungsseite wurde bislang niemand deswegen beschuldigt.“
Und noch etwas vergiftet das politische Klima: Die wachsende Zahl von Anklagen wegen Majestätsbeleidigung. Einem Betroffenen kann das jahrelange Haft einbringen. Nicht nur Rothemden, sondern auch prominente Akademiker, Aktivistinnen oder Journalisten werden beschuldigt. Kritiker monieren, dass Regierung und Armee die Gesetzeslage zunehmend missbrauchten, um freie Meinungsäußerung zu unterdrücken. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass vor kurzem in Dutzenden „roten“ Radiostationen Razzien stattfanden und etliche Sender vorübergehend geschlossen wurden.
Die Wahlen bedeuten höchstens eine Atempause im Konflikt – eine Lösung sind sie nicht.
Nicola Glass ist freie Südostasien-Korrespondentin für Hörfunk und Printmedien und lebt schon seit Jahren in der thailändischen Hauptstadt.
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