Zerrissenes Land

Von Redaktion · · 2010/07

NI-Redakteurin Hadani Ditmars kehrt nach Bagdad zurück – und findet sich in einer gebrochenen Stadt wieder, erschüttert von interreligiösen Konflikten und mit einer ungewissen Zukunft.

Sieben Jahre war ich weg, nun bin ich wieder hier in Bagdad. Die Welle der Gewalt nach der Invasion im Irak hat seit 2003 einer Million Menschen das Leben gekostet.1) Ethnisch-religiöse Bürgerkriege haben das Land zerrissen, ausländische Truppen haben riesige Militärstützpunkte errichtet, und Politiker, die geschworen hatten, die Milizen auszuschalten, unterhalten heute eigene Privatarmeen. Der Extremismus hat die einst säkulare Nation bis zur Unkenntlichkeit verändert, mit schrecklichen Folgen für Frauen, Homosexuelle und religiöse Minderheiten. Der Regierungsapparat ist nach wie vor ein Futtertrog der Vetternwirtschaft und beherrscht von ethnisch-religiösem Klientelismus; die nationale Versöhnung nur ein Phantom.

53 Mrd. US-Dollar an „Hilfe“ sind offensichtlich in aufgeblähten Projekten verschwunden, die nur dazu dienten, die Taschen ausländischer Kontraktoren und lokaler Funktionäre zu füllen, denn 70 Prozent der irakischen Bevölkerung haben keinen Trinkwasseranschluss, und die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 50 Prozent – offiziell, inoffiziell ist sie weit höher.2,3) Der Irak wird heute von Transparency International als das fünftkorrupteste Land der Welt eingestuft, und auch wenn sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren etwas verbessert hat, so doch zu einem enorm hohen Preis. Ethnisch-religiöse „Säuberungen“ haben den Charakter von Stadtvierteln verändert, die heute von den allgegenwärtigen, als „T-Wände“ bekannten Betonbarrieren durchzogen werden, und das Antlitz des Landes entstellt. Mehr als zwei Millionen IrakerInnen sind Flüchtlinge, beinahe drei Millionen interne Vertriebene – rund ein Fünftel der Bevölkerung. Viele haben einfach zu viel Angst, um zurückzukehren, oder sind zu stark entmutigt von dem, was sie durchgemacht haben, um den Plakaten Glauben zu schenken, die nun an jeder Ecke „Sicherheit, Elektrizität, Arbeitsplätze“ und sogar „Nationale Einheit“ versprechen.

Die Wahlen stehen unmittelbar bevor. Wenn Sie das lesen, wird es bereits Kuhhändel zwischen der Minderheitsregierung und anderen führenden Parteien gegeben haben. Es wird zu verschiedenen Bündnissen gekommen sein; Vereinbarungen zwischen den einen, die sich zu einer säkularen, von den USA unterstützten „Einheit“ bekennen, und den anderen, die sich auf mächtige schiitische Milizen stützen können (für alle, die sich für das Ergebnis der Religionskriege interessieren: die mehrheitlichen Schiiten haben „gewonnen“, und viele Sunniten sind geflohen). Mörder werden mit Mördern verhandeln, und die Gewalt wird beinahe mit Sicherheit weitergehen. Was sich an der Lage der schicksalsgeplagten irakischen BürgerInnen ändert, bleibt abzuwarten.

Als ich Ali Allawi, Ex-Minister in zwei Regierungen nach der Invasion und Autor des Buches The Occupation of Iraq4), fragte, wie das Land gerettet werden könnte, sagte er mir: „Die Sunniten müssen sich von der Illusion verabschieden, dass der alte Irak ein Staat gewesen wäre, in dem Religion und Ethnizität keine wichtige Rolle gespielt hätten. Die Schiiten müssen aufhören, ihr Opfertum wie einen Fetisch zu verehren. Und die Kurden müssen entscheiden, ob sie Iraker sind oder nicht. Für die aktuelle Situation kann man die Amerikaner in Wirklichkeit nur bis etwa 2006 verantwortlich machen. Danach liegt die Schuld bei den Irakis.“

Später werde ich Frauen in einem Bagdader Schönheitssalon fragen, wie der Irak gerettet werden könnte, darunter Kurdinnen, Araberinnen, Christinnen und Musliminnen, und sie werden mir antworten: „Es reicht, wir haben die Nase voll von dieser Unsicherheit. Früher konnten wir allein auf die Straße gehen, jetzt sind wir in unseren Wohnungen eingesperrt. Wir brauchen einen anderen Saddam, um das in den Griff zu bekommen.“

Solche Fragen gehen mir durch den Kopf, als ich von Amman im benachbarten Jordanien nach Bagdad fliege. Vielleicht sollte ich sie meinen Sitznachbarn stellen. Links neben mir sitzt ein gut aussehender irakischer Mann, der bescheiden, aber irgendwie vornehm wirkt; rechts ein großer, blonder Amerikaner mit Tätowierungen, in Zivilkleidung, aber mit Kampfschuhen. Ich versuche mir zuerst ein Bild von ihnen zu machen, bevor ich ein Gespräch beginne.

„Als ich früher hier war“, sage ich zu dem Amerikaner, „habe ich die Leute nie gefragt, ob sie Sunniten oder Schiiten sind.“ Tatsächlich galt das als irgendwie befremdend und eher unhöflich, bevor die USA dazu übergingen, ihre Gegner von schiitischen Todesschwadronen (aufgestellt vom Innenministerium), darunter die berüchtigte Wolf Brigade, abknallen zu lassen und extremistische sunnitische Milizen zu unterstützen.5,6)

Solche Vorgangsweisen, oft schönfärberisch als Mittel zum Aufbau eines „Gegengewichts“ bezeichnet, ebneten dem Bürgerkrieg den Weg. Der Irak hatte die Auswirkungen des Kalten Kriegs und des Machtpokers zwischen Russland und den USA bloß überstanden, um der gefährlichen Teile-und-Herrsche-Politik der USA und des Iran zum Opfer zu fallen. Extremistische religiöse Führer, die im Chaos nach der Invasion und im Machtvakuum nach dem Sturz des Polizeistaats an Einfluss gewannen, hatten kein Problem, ein williges Fußvolk unter einer Generation entrechteter junger Männer zu rekrutieren, die mit nichts anderem als Krieg, Sanktionen und Saddam aufgewachsen waren.

Es stellt sich heraus, dass mein amerikanischer Sitznachbar nach einigen Jahren als Besatzungssoldat im Irak zum Islam konvertiert war. Nun arbeitet er als Verbindungsoffizier für das US-Außenministerium. Aber er ist gegen die Besatzung. „Es ist noch immer ein Marionettenregime. Unsere Anwesenheit ist nicht wirklich hilfreich“, sagt er mir, „aber wenn wir gehen, könnte es noch schlimmer werden. Wir tragen eine Verantwortung für den Wiederaufbau dieses Landes … an dessen Zerstörung wir mitgewirkt haben.“

Während der kommenden Wochen werde ich viele Iraker und Irakerinnen Ähnliches sagen hören. Alle machen sich Sorgen über die Zeit nach den Wahlen. 2005, als die meisten SunnitInnen die Wahlen boykottierten, brach der Bürgerkrieg aus. Heute steht mit dem für August geplanten Abzug der Hälfte der verbleibenden 100.000 US-SoldatInnen noch weit mehr auf dem Spiel.

Ich wende mich meinem irakischen Nachbarn zu, der meine Unterhaltung mit dem Amerikaner verfolgt hat. Er ist Generaldirektor der Abteilung Dattelpalmen im irakischen Landwirtschaftsministerium. Bevor der achtjährige Iran-Irak-Krieg auf beiden Seiten eine ganze Generation junger Männer und nebenbei auch hunderte Landwirtschaftsbetriebe vernichtete, gab es im Irak 30 Millionen Dattelpalmen. Sie sind praktisch ein Nationalsymbol, und irakische Datteln gehören zu den begehrtesten der Welt. Aber Jahre des Kriegs und mehr als zehn Jahre Sanktionen, die die Wirtschaft ruinierten und die Einfuhr von Agrochemikalien verunmöglichten, haben die Dattelpalmenpopulation dezimiert, ganz zu schweigen von der anhaltenden Dürre. Das Ministerium plant nun, mit lukrativen Vertragsangeboten für potenzielle Plantagenbetreiber ausländische Investitionen anzuziehen. Neue Pflanzungen würden ihrerseits mithelfen, die fortschreitende Wüstenbildung zu stoppen, von der dieses früher fruchtbare Land heimgesucht wird.

Was ist nur mit diesem Land geschehen? Ich erinnere mich an meine erste Irak-Reise 1997, während der schlimmen Zeit des UN-Embargos, mit dem die Invasion von Kuwait durch Saddam bestraft wurde. Ich sollte über den beklagenswerten Zustand der Gesundheitsversorgung berichten. In einem Land, das einst in der ganzen arabischen Welt um sein staatliches Gesundheitssystem beneidet wurde, hatte die Kindersterblichkeit in den ersten Jahren der Sanktionen Ausmaße erreicht, wie man sie nur aus Afrika südlich der Sahara kennt.

Damals war noch die Flugverbotszone in Kraft, und ich kam auf dem Landweg zur Grenzkontrollstelle, in einer unwirklichen Mondlandschaft mitten in der Wüste. Ich fuhr in einem Sammeltaxi durch das so genannte „Sunnitische Dreieck“ – damals nicht mehr als eine Reihe bitterarmer Städte nordwestlich von Bagdad. Die amerikanisierte „Karte“ des Irak nach der Invasion, mit der das multikulturelle Land scheinbar in drei sauber voneinander getrennte Teile zerlegt werden sollte – den kurdischen Norden, das sunnitische Mittelstück und den schiitischen Süden – wäre mir damals genauso fremd erschienen wie den meisten Irakis. Abgesehen davon, dass sich der innerste Kreis um Saddam und die Führungsschicht der Baath-Partei aus Kurden, Sunniten, Schiiten und Christen zusammensetzte und Mischehen verbreitet waren, ließ der Kampf gegen den doppelten Terror durch Sanktionen und Saddam bei den meisten Menschen hier eine Art Belagerungsmentalität entstehen, die sie zusammenschweißte und derart über zunehmende ethnisch-religiöse Spannungen hinwegtäuschte.

Das Embargo zerstörte zwar die Reste der Wirtschaft und der Mittelschicht, die der achtjährige Krieg mit dem Iran übrig gelassen hatte, ermöglichte es Saddam aber, seinen eisernen Griff auf das Land weiter zu festigen. Mit einer ruinierten Privatwirtschaft und der herrschenden Belagerungsmentalität sorgten die vom Staat verteilten Lebensmittelkarten dafür, jeden verbleibenden Appetit auf Widerspruch zu vertreiben: Es ist nicht leicht, die Hand zu beißen, die einen füttert.

Nach mehreren Irak-Reisen in der Saddam-Ära kam ich im August 2003 erstmals in den besetzten Irak. Bei meiner Ankunft am früheren Saddam International Airport, völlig runderneuert samt provisorischem Gefängnis und Burger King, stempelte ein junger US-Marine meinen Reisepass ab, aber nicht mit dem alten irakischen Adler, sondern mit einem unscheinbaren Symbol der „Coalition Provisional Authority“. Ich recherchierte für mein Buch Dancing in the No-Fly Zone7), und ich kam noch rechtzeitig, bevor mir die Sicherheitssituation eine Berichterstattung in meinem Stil verunmöglicht hätte – von Märkten, Kirchen, Moscheen und Theatern, aus Privatwohnungen und Stadtvierteln. Zwar war es ab und zu wirklich gefährlich, aber ich genoss eine gewisse Bewegungsfreiheit und schaffte es, viele meiner alten FreundInnen und Kontakte zu treffen.

Nachdem ich das Land verlassen hatte, verfolgte ich seine Missgeschicke aus der Ferne weiter, dokumentierte den anhaltenden Braindrain durch die von Todesschwadronen verübten Morde an ProfessorInnen, KünstlerInnen und ÄrztInnen sowie den neuen Terror der extremistischen Milizen. „Vorher hatten wir einen Saddam“, hatte mir ein befreundeter Bühnenautor gesagt, „und wir wussten, vor wem wir uns zu fürchten hatten. Jetzt haben wir Dutzende.“

Aber ich dachte nie, dass ich wieder zurückkommen würde. Tatsächlich wäre es auch fast nicht dazu gekommen, einerseits aus Sorge wegen der Bombenanschläge der letzten Monate, andererseits wegen der restriktiven Vergabe von Journalistenvisa unter Premierminister Nuri al-Maliki. In den schlimmen alten Zeiten der baathistischen Apparatschiks war es einfacher, eines zu bekommen. Aber fast in letzter Minute wurde eine irakische Nichtregierungsorganisation namens Journalistic Freedom Observatory zur Retterin in der Not und schaffte es auf wundersame Weise, mir ein Visum zu beschaffen.

Nun, nach der Landung, warte ich mit einer Gruppe tamilischer Arbeiter und ein paar französischen Ölmanagern darauf, dass mein Pass abgestempelt wird, diesmal von Irakis. Minuten später trete ich hinaus unter die gleißende Sonne eines „Brave New Iraq“, wo dutzende potenzielle Saddams von Wahlplakaten auf mich herabstarren.

Copyright New Internationalist

1) www.brusselstribunal.org/Lancet111006.htm
2) www.informationclearinghouse.info/article18091.htm
3) www.brusselstribunal.org/pdf/AcademicsDossier4.pdf
4) The Occupation of Iraq – Winning the War, Losing the Peace; Yale University Press, April 2007
5) http://ipsnews.net/news.asp?idnews=31639
6) www.newint.org/features/2009/10/01/blowback/
7) Dancing in the No-fly Zone: A Woman's Journey Through Iraq, Olive Branch Press, September 2005.

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