Zenash will lernen

Von Redaktion · · 2015/02

Wer im aufstrebenden Äthiopien behindert ist, bleibt oft ungebildet – und damit arm. Was wird getan, um das zu ändern?
Eva Maria Bachinger (Text) und Aleksandra Pawloff (Fotos).

Auf der Veranda steht ein Fahrrad, eine Katze schnurrt in der Sonne. Zenash klemmt einen Hocker zwischen ihre Beine, wo eine Platte mit Brailleschrift liegt. Sie liest das ABC vor. Ihre Mutter murmelt leise mit und zupft Zenashs T-Shirt zurecht. Zenash kann die Freude kaum verbergen, als ihre Betreuerin Zawdea Abaynesh sie lobt. Die Eltern strahlen.

Die 13-jährige Zenash hat erst vor kurzem lesen gelernt. Damit hat sich ein Universum für sie aufgetan. Zenash ist nicht von Geburt an blind, vermutlich hat Epilepsie dazu geführt. „Ich sagte ihr, sie muss in eine Spezialschule, die weit entfernt ist. Sie weinte und wollte nicht weg. Das brach mir das Herz“, erzählt ihr Vater Bulecha Megresa. Zenash blieb Bildung lange verwehrt. 

Behindert zu sein bedeutet in Äthiopien häufig ungebildet zu bleiben, versteckt zu werden, aus Scham und Hilflosigkeit. Es gibt kaum staatliche Förderprogramme und es fehlt Basiswissen über Behinderung. Zenash und ihre Eltern leben in Woliso, etwa 110 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Addis Abeba. In der Region sind 225.000 Menschen zuhause, offiziell haben davon 1.686 eine Behinderung. Die Dunkelziffer dürfte höher sein.

Äthiopien hat in vielerlei Hinsicht eine positive Entwicklung durchgemacht. Mittlerweile gibt es 33 Universitäten, die Kinder- und Müttersterblichkeit ist zurückgegangen. Doch es bleibt noch viel zu tun. Nicht zuletzt im Umgang mit Menschen mit Behinderung.

Erfolgsgeschichte: Zenash Megresa kann wieder lernen, seitdem sie von der 26 Jahre alten Zawdea Abaynesh von der äthiopischen Organisation ­VCBRA betreut wird. Die Eltern der anderen Kinder und die LehrerInnen haben ihre Vorbehalte mittlerweile abgelegt. „Ich gehe so gerne in die Schule. Später möchte ich Lehrerin werden, um anderen blinden Kindern zu helfen“, sagt sie und lächelt schüchtern.

Abaynesh unterstützt nicht nur Zenash, sondern 26 andere behinderte Kinder. Die NGO VCBRA ist für die lokale Rehabilitation der Kinder zuständig. „90 Prozent gehen derzeit nicht zur Schule. Ohne Bildung aber keine Arbeit, ohne Arbeit kein Einkommen. Behinderung ist einer der wesentlichsten Gründe für Armut“, so der Psychologe Demelash Bekele von VCBRA. Integration müsse durch die Gemeinschaft getragen werden, deshalb sei Aufklärungsarbeit bei Eltern wie auch bei Lehrerinnen und Lehrern wesentlich.

Äthiopien hat, wie auch Österreich, die UN-Konvention über die Rechte von Behinderten unterzeichnet. Doch hier wie dort ist man säumig. Das Gesetz, demnach alle öffentlichen Gebäude barrierefrei sein müssen, wurde bereits erkämpft, aber noch nicht überall umgesetzt. Einen Vorsprung gegenüber Österreich hat Äthiopien allerdings im Schulsystem: In der Schule „Del Bitigel“ in Addis werden 2.800 Kinder unterrichtet, 60 davon sind gehörlos. Doch alle Kinder sowie die Lehrerinnen und Lehrer lernen die Gebärdensprache und gestikulieren zur Begrüßung. Der zwölfjährige Mabetamu Kupyalwew will einmal Fußballspieler werden, erzählt er und grinst von einem Ohr zum anderen. „Ich bin so froh, hier mit den anderen Kindern zu lesen, zu lernen. Ich fühle mich dann so normal und vergesse meine Gehörlosigkeit.“ Derzeit gibt es rund 30 Schulen mit inklusiven Klassen. So positiv die Barrierefreiheit an der Schule ist, so wenig behindertenfreundlich sei nach wie vor der Schulweg, so Ephrem Taye von der Organisation Licht für die Welt, die mit VCBRA kooperiert. Weder gebe es Rampen noch ein Blindenleitsystem, auch keine behindertengerechten Transportmöglichkeiten.

Megaprojekte & miese ­Menschenrechtsbilanz

Äthiopien wird in der Öffentlichkeit noch immer eher mit Dürre und Armut verbunden als mit Entwicklung. Im Human Development Index rangiert der ostafrikanische Vielvölkerstaat (80 Ethnien) weit hinten, auf Platz 173 von 187 Staaten. In der Nordregion Tigray sieht man Bäuerinnen und Bauern mit Ochsen vor einem Pflug Felder umpflügen. Im Kreis gehend dreschen sie Getreide. Die Esel trotten vor sich hin, voll beladen mit Getreidebündel. Es sind Bilder wie aus anderen Zeiten.

Doch es gibt auch ein anderes Äthiopien: Bei der Stadt Mek´ele ragen Windräder in den Himmel, in der Hauptstadt Addis Abeba wurden öffentliche Buslinien ins Leben gerufen, es wird an allen Ecken und Enden gebaut. Aktuelle Projekte des 100 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Staates: eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Dschibuti und das größte Wasserkraftwerk Afrikas am Blauen Nil. Chinesische Investoren sind im Land sehr präsent.

Mit dem rasanten Wachstum hält allerdings die Menschenrechtslage nicht mit. In punkto Pressefreiheit rangiert Äthiopien in Afrika an vorletzter Stelle vor Eritrea. Human Rights Watch und Amnesty International nennen als größte Missstände Folter, Verhaftungen von JournalistInnen und Oppositionellen, mangelnde Meinungsfreiheit, weibliche Genitalverstümmelung.

Trotzdem gilt Äthiopien als stabiles Land neben seinen krisengeschüttelten Nachbarn Somalia, Eritrea und Südsudan. „Wir kehren dem Partner nicht den Rücken, aber weisen immer wieder darauf hin, dass auch die Menschenrechte wichtig für die Entwicklung im Land sind“, erklärt Heinz Habertheuer, der vier Jahre lang für die Austrian Development Agency (ADA) vor Ort die Projekte koordiniert hat.

Dominierende Partei in Äthiopien ist die EPRDF-Koalition: Die Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker hat einen sozialistisch-föderalistischen Kern, agiert aber nun sehr marktorientiert. Die Opposition ist zersplittert und eingeschränkt. Heuer sind Parlamentswahlen.   E. B.

Gefahr Trachom: Behinderung kann mitunter entstehen, weil medizinische Behandlung fehlt. Trachom ist eine bakterielle Augenentzündung, die vergleichsweise einfach zu behandeln ist. Passiert dies allerdings nicht, führt sie zu Blindheit.

„Es ist eine Krankheit der Armen, vor allem der Frauen und Kinder“, sagt der Augenarzt Amir Bedri Kello. Dort, wo viele Menschen auf wenig Platz zusammenleben müssen, wo Mangel an Hygiene herrscht, ohne Wasser und ohne Toiletten, und wo es viele Fliegen gibt – dort verbreiten sich die Bakterien rasch. Es reicht, wenn die Frauen den Kindern das Gesicht mit ein und demselben Tuch abwischen. Die Infektionen klingen zwar wieder ab, aber jedes Mal vernarbt das Gewebe unter dem Augenlid. Dadurch dreht es sich nach innen: Unter ständigen Schmerzen zerkratzen die Wimpern die Hornhaut. Die Kranken versuchen nicht zu blinzeln oder reißen sich sogar die Wimpern aus.  Für die Frauen, die am Feuer kochen, wird die Lage unerträglich, weil beißender Rauch vom Feuerholz dazukommt. „Das bedeutet dann oft, dass die älteste Tochter kochen muss und nicht in die Schule kann“, so Kello. Die Armut setzt sich fort.

Vor allem in der Region Tigray im Norden des Landes hat Trachom epidemische Ausmaße angenommen. 30 Prozent der Bevölkerung sind betroffen, 1,2 Millionen Menschen müssten jährlich mit einem Antibiotikum behandelt werden. Das Medikament wirkt gegen die Infektionen. Der herstellende Pharmakonzern Pfizer stellt es der äthiopischen Regierung gratis zur Verfügung – nicht ganz uneigennützig. Denn der äthiopische Markt ist groß und ist ein Produkt erst einmal gut eingeführt, ist die Abnahme später gegen Bezahlung gesichert. Nachhaltiger als die Medikamente ist die Aufklärungsarbeit der „Gesundheitsarmee“, wie die Regierung ihr Programm militaristisch nennt. Denn verbessert sich die Hygiene nicht, kehren die Infektionen immer wieder und Trachom ist nicht auszurotten. In jedem Dorf wird deshalb eine Frau ausgewählt, die darauf achtet, dass Latrinen gebaut, saubere Tücher verwendet werden und genug Wasser vorrätig ist.

Einer der 122 Augenärzte, die es im gesamten Land gibt, ist Tilahun Kiros. Er richtete das Quiha-Zonal-Augenspital in Mek´ele ein, in dem jeden Tag Dutzende Patientinnen und Patienten stundenlang auf ihre Behandlung warten. Draußen in der Sonne vor dem Spital sitzen junge Studierende auf einer Bank und albern herum. Sie haben medizinische Grundberufe wie Physiotherapeut gelernt. Wegen des großen Mangels an Augenärztinnen und -ärzten machen sie eine Zusatzausbildung. Innerhalb von drei Monaten sollen sie Operateurinnen und Operateure werden und Augen-OPs durchführen. „Ich will helfen, die Lage zu verbessern“, sagt die 21-jährige Samrawit Gebreskel.

Die Augenklinik, die Aufklärungsarbeit in den Dörfern, die Ausbildung der Operateurinnen und Operateure, diese Projekte werden auch von Österreich finanziert. Das EZA-Budget wird heuer nicht wieder wie 2014 gekürzt. Für die Trachom-Behandlung hat die Austrian Development Agency (ADA), die Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit, bis Mitte 2016 300.000 Euro zugesichert. Nötig ist weit mehr.

Eva Maria Bachinger lebt als Journalistin und Autorin in Wien.

Aleksandra Pawloff lernte bei Elfie Semotan und hat in renommierten Medien im deutschsprachigen Raum Porträts und Reportage-Fotos veröffentlicht.

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