Die Dominanz der reichen Länder in der Weltwirtschaft geht ihrem Ende zu.
Ist der „magische“ Moment schon vorbei? Ja, behauptete der britische Economist im September – es war 2005. Gemeint ist der Zeitpunkt, zu dem die ärmeren Länder in punkto Wirtschaftsleistung die reichen Länder überholen. Allerdings rechnete das Magazin neben Hongkong, Taiwan, Südkorea und Singapur auch die Ex-Sowjetunion und Zentral- und Osteuropa zu den „Emerging economies“. Zieht man zumindest die reichen „Tiger“ wieder ab, belief sich ihr Anteil an der Weltwirtschaft im Vorjahr „erst“ auf 46,6% (Weltbank) oder 47,7% (IWF). Aber spätestens 2008 könnte es so weit sein, wenn sich das rasche Wachstum in den ärmeren Ländern fortsetzt.
Jedenfalls dann, wenn nach „Kaufkraftparitäten“ gemessen wird. Dabei wird die Wirtschaft eines Landes nicht auf Basis des offiziellen Wechselkurses bewertet, sondern anhand international „normierter“ Preise der jeweiligen Waren und Dienstleistungen. Denn die Währungen der meisten ärmeren Länder sind zum Teil krass unterbewertet. Etwa schätzt die Weltbank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Chinas nach Kaufkraftparitäten fast viermal, das Indiens beinahe fünfmal so hoch wie nach Wechselkursen. China war demnach 2005 nicht die Nr. 4 der Welt, sondern die Nr. 2 – mit etwa zwei Drittel des BIP der USA und dem Vierfachen des BIP Großbritanniens.
Interessant ist auch die historische Perspektive. Kombiniert man die Berechnungen des Wirtschaftshistorikers Angus Maddison mit aktuellen Daten und Prognosen, zeichnet sich eine Art Auferstehungsszenario ab – eine Rückkehr zu den Relationen vor der Industriellen Revolution.
Was hier historisch „wiederaufersteht“, ist aber offensichtlich Asien (hier inklusive Mittlerer Osten, aber ohne Japan). Beim Rest ist davon wenig zu sehen. Das hat der Economist in seiner Version der Grafik übrigens unterschlagen – was vielleicht der Intention entspricht, die Globalisierung schlechthin abzufeiern.
Einer der Akteure, die an diesem Werbefeldzug mitwirken, ist das Investmenthaus Goldman Sachs, dem auch die Eintopf-Kategorie der „BRICs“ (Brasilien, Russland, Indien, China) zu verdanken ist. Nach Goldman Sachs-Szenarien haben die BRICs das Potenzial, selbst nach offiziellen Wechselkursen die G-6 (USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien) noch vor 2040 zu überholen. Das verdankt sich aber vor allem ihrer großen Bevölkerung. Pro Kopf dürfte das Einkommen im Norden sogar 2050 noch mehr als doppelt so hoch sein wie etwa in China, Brasilien oder der Türkei; dort wäre aber bis dahin etwa das heutige Einkommensniveau Deutschlands erreicht.
Skepsis ist zwar angebracht – wie stets bei langfristigen Prognosen – doch sind die angenommenen Wachstumsraten nicht einmal besonders optimistisch. Der Aufstieg Japans oder der vier Tiger Ostasiens ging sogar rascher vor sich, wie Goldman Sachs betont. Doch müssten die BRICs die richtigen Voraussetzungen gewährleisten – aus Sicht von Goldmann Sachs u.a. niedrige Inflation, moderate Budgetdefizite, Qualität der Institutionen, Freihandel, Offenheit für Auslandsinvestitionen und natürlich Bildung.
Was diese Rezeptur – neben den externen Rahmenbedingungen – ignoriert, sind Verteilungskonflikte. Auch die Szenarien selbst befassen sich nicht damit, wie der erwartete neue Reichtum innerhalb der Länder verteilt sein könnte – ein erheblicher Mangel. Etwa herrscht fast genereller Konsens darüber, dass Chinas weiterer Aufstieg davon abhängen wird, ob es der Führung in Beijing gelingt, eine weitere Öffnung der Einkommensschere zwischen Stadt und Land, Küste und Landesinnerem zu unterbinden, um die nötige politische Stabilität zu gewährleisten.
Wie in China, so auch im Norden. Vor allem der Eintritt Asiens in die Weltwirtschaft hat das theoretisch verfügbare Arbeitskräftepotenzial verdoppelt und die Machtverhältnisse zugunsten der Kapitalseite verschoben. International tätige Unternehmen nutzen die neue Situation, indem sie Fertigungsprozesse aus- und verlagern oder damit bloß drohen. Die Folge sind stagnierende Reallöhne und ein höherer Anteil der Gewinne am Nationaleinkommen; insbesondere ist das bei den „Exportweltmeistern“ Japan und Deutschland zu beobachten, wie die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in ihrem Trade and Development Report 2006 feststellt.
Angst vor den „Hungerlöhnen“ in fernen Ländern macht sich daher wieder breit – ein déjà vu: Zuletzt war das der Fall, als der Aufstieg Japans und der asiatischen Tiger für Untergangsszenarien sorgte. Diese Entwicklung gefährdet die politische Basis der Globalisierung, diagnostiziert der Economist – und befürwortet mehr Umverteilung im Norden durch das Sozial- und Steuersystem, um das zu verhindern. Die Reichen sollen also stärker geschröpft werden – auch ein Hauch einer neuen Ära, zumindest für ein wirtschaftsliberales Magazin.