„Wir wollen hier bleiben!“

Von David Siebert · · 2007/11

Arbeitslos trotz Diplom? Für HochschulabsolventInnen in Marokko ist das Alltag. Seit Jahren demonstrieren in den Straßen der Hauptstadt Rabat täglich hunderte AktivistInnen der „Arbeitslosen Akademiker“. Trotz Reformen bessern sich die Lebensbedingungen im Königreich nur langsam.

Wir haben Politik, Sprachen, Jus, oder Ingenieurswissenschaften studiert. Trotz Praktika, Auslandsaufenthalten und Auszeichnungen finden wir keine Arbeit“, empört sich Samira während einer Demonstration auf der von Palmen gesäumten Prachtstraße „Boulevard Mohammed V.“ vor dem Parlament. Samira ist eine selbstbewusste, modern gekleidete 30-jährige Frau. Sie hat Sprachwissenschaft studiert, findet aber seit Jahren keinen Job. „Ein Studium ist hier mit enormen Anstrengungen und Opfern verbunden. Es ist ein Drama: Ein Entwicklungsland wie Marokko braucht qualifizierte Uni-Absolventen – aber wir finden keine Arbeit!“, klagt sie. Auch Hicham Bourkhidi beschwert sich laut: „Dauernd spricht man über die Reformen des Königs – uns haben sie aber bisher nichts gebracht. Das ist alles nur Show für das Ausland und die Medien.“ Statt Verhandlungen beantworte die Regierung den Protest mit Repression. „All die letzten Jahre wurden regelmäßig Leute bei Polizeieinsätzen verletzt“, erzählt Bourkhidi. „Es gab Beinbrüche, andere haben ihr Augenlicht verloren.“
Marokkos junger König Mohammed VI. gibt sich reformfreudig: Seine „Wahrheitskommission“ sollte die Menschenrechtsverbrechen der „bleiernen Jahre“ aufklären, der Regierungszeit seines Vaters Hassan II. Seit er die Mudawana – ein neues liberales Familiengesetz – durchgesetzt hat, genießen Frauen mehr Freiheiten und Rechte. Mit der „Initiative für menschliche Entwicklung“, die bis 2010 mit einer Milliarde Euro ausgestattet wurde, will der „König der Armen“ die Armut bekämpfen. Trotzdem ist das Leben vieler junger Menschen in Marokko weiterhin von Perspektivelosigkeit geprägt.
30 Prozent der HochschulabsolventInnen in Marokko sind arbeitslos. Die Arbeitsagentur ANAPEC zählt 100.000 Arbeit suchende AkademikerInnen. Die tatsächliche Zahl dürfte aber erheblich höher liegen. Arbeitslose bekommen keinerlei Unterstützung vom Staat. Viele der AkademikerInnen wohnen deswegen noch bei ihren Eltern. Andere haben sich in Cliquen zusammengetan. Sie teilen ihre Wohnungen und halten sich mit Straßenverkauf und kleinen Dienstleistungen über Wasser. 1991 gründeten Arbeitslose mit Diplom einen Dachverband mit heute 7.000 Mitgliedern. Seither kamen andere Gruppen und Vereinigungen dazu, die sich in der Bewegung der „Arbeitslosen AkademikerInnen“ zusammen tun.
Doch ihre Probleme sind nur die Spitze des Eisbergs. Schätzungen zufolge finden mehr als 60 Prozent der unter 30-jährigen in Marokko keine Arbeit. Oft führt die Resignation zu Verzweiflungstaten. 2005 zündeten sich 20 Arbeitslose in Rabat öffentlich an. Seither haben auch Andere versucht, mit öffentlichen Selbstverbrennungen auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen.

Dass die „Arbeitslosen Akademiker“ eine Anstellung im öffentlichen Dienst fordern, wird von der regierungsnahen Presse oft kritisiert. Die Zeiten, in denen ein Studium einen sicheren, bequemen Schreibtischjob beim Staat garantierte, seien vorbei, heißt es. Die Regierung propagiert die Jobsuche in der Privatwirtschaft. Während in den 1980er Jahren noch jährlich 28.000 neue Stellen im Staatsdienst besetzt wurden, waren es Anfang der 1990er nur noch 12.000. Der Stellenabbau ist Teil der „Strukturanpassungsmaßnahmen“, die internationale Finanzinstitutionen von Marokko verlangen. Der König spart jedoch nicht. Wie das marokkanische Wochenmagazin „Tel Quel“ aufdeckte, verschlingt das Budget des Königshauses jährlich 210 Millionen Euro – 18 Mal mehr als der Haushalt der britischen Königin. Ein Viertel der 31 Millionen BürgerInnen Marokkos muss mit weniger als einem Euro täglich auskommen.
Seit der Affäre „Annajat“ hat die Regierung beim Thema „Jobbeschaffung“ auch jede Glaubwürdigkeit verspielt. 2002 vermittelte die staatliche Arbeitsagentur ANAPEC Jugendlichen Jobs auf Kreuzfahrtschiffen der Annajat-Gesellschaft aus den arabischen Emiraten. Doch von den 30.000 BewerberInnen wurde nie jemand eingestellt. Stattdessen verschwanden die Bearbeitungsgebühren von 90 Euro pro BewerberIn unter den Augen der Behörden in dunklen Kanälen. Obwohl der damalige Arbeitsminister Abbas El Fassi darin tief verstrickt war, überstand er die Affäre unbeschadet. Nun wurde der Chef der konservativen Partei Istiqlal nach den Wahlen im September von König Mohammed VI. sogar zum Premierminister ernannt.

Wie wenig Vertrauen die MarokkanerInnen in die Politik haben, war bei diesen Parlamentswahlen deutlich. Die Wahlbeteiligung fiel auf ein Rekordtief von 37 Prozent. Viele erhoffen sich von den IslamistInnen einen Ausweg aus der Misere. Sbai Said, Aktivist bei der Gruppe „Doktoranden ohne Arbeit“, hat das bei vielen AltersgenossInnen beobachtet: „Die Politik wird hier nicht vom Parlament gemacht. Hier entscheiden andere Leute. Die Jugend ist von der Politik frustriert, deswegen wendet sie sich den Islamisten zu.“
Die islamistische „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (PJD) wurde bei den Wahlen zweitstärkste Fraktion im Parlament. Ihre Abgeordneten sind fast alle unter 50, 80 Prozent haben an der Universität studiert. Die PJD präsentiert sich als Partei mit „sauberer Weste“, die der Korruption den Kampf ansagt. Offiziell bekennt sie sich zum Rechtstaat. Andererseits propagiert sie in ihrer Parteizeitung Attadid einen wertkonservativen Islam. Dort polemisiert man gegen die „Verwestlichung“ und den „Sittenverfall“ und verlangt von Homosexuellen, dass sie „sich von Satan abwenden“. Die stärkste islamistische Kraft neben der PJD ist „al-Adl wal ihsan“. Die Bewegung „Gerechtigkeit und Wohlfahrt“ rief zum Wahlboykott auf. Sie ist verboten, ihre Aktivitäten werden aber toleriert. Mit Suppenküchen und Alphabetisierungskampagnen hat sich die Bewegung von Scheich Yassine vor allem unter den Armen der Großstadtslums einen Namen gemacht.

Dass die IslamistInnen Erfolg haben, zeigt sich auch an den Hochschulen, wo immer mehr Frauen Kopftuch tragen. Auf dem Campus der Universitäten von Fes und Oujda – ehemals Hochburgen linker Studentengruppen – geben nun die Bartträger von „al-Adl wal ihsan“ den Ton an. Sie organisierten Streiks und Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen islamistischen und linken Studierenden. Auch bei den „Arbeitslosen Akademikern“ versuchen die IslamistInnen Fuß zu fassen: „Sie wollen die Aktivisten für sich gewinnen, etwa indem sie unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit ihre Mieten bezahlen“, erzählt ein Gewerkschafter.
Kurz vor den Wahlen hat der Staat auf den Protest der „Arbeitslosen Akademiker“ reagiert. 2.768 der AktivistInnen sollen bei Neueinstellungen im öffentlichen Dienst „bevorzugt behandelt“ oder mit einer Weiterbildung für die Privatwirtschaft „fit“ gemacht werden. Den arbeitslosen Doktor juris Sbai Said stimmt der Etappensieg wenig optimistisch: „Das geht seit mehr als zwölf Jahren so. Alle drei, vier Jahre werden einige der Protestierer eingestellt. Diejenigen, die nicht demonstrieren, gehen leer aus. Die Politiker antworten nur auf den Druck der Straße, sie haben kein Konzept.“ Den Reformwillen des Königs bewertet Said skeptisch. „Trotz erster Demokratisierungsschritte hat die alte rigide Strenge und Unnachgiebigkeit der Vergangenheit überlebt. Wahrscheinlich spüren die Eliten, dass ihre wirtschaftlichen Privilegien bedroht sind.“

Doch die Jugend fordert ungeduldig Veränderungen. Zehntausende junge, oftmals gut ausgebildete MarokkanerInnen sind in den letzten Jahren ins „Eldorado“ des Westens ausgewandert. Nach einer Weltbank-Studie arbeiteten im Jahr 2000 ca. 140.000 marokkanische HochschulabsolventInnen außerhalb des Landes. Derzeit leben drei Millionen MarokkanerInnen im Ausland, zehn Prozent der Bevölkerung. Zwar steigt die Bereitschaft der Exil-MarokkanerInnen, in die Heimat zurückzukehren, doch um den „Brain Drain“-Effekt zu stoppen, bleibt noch viel zu tun. Laut einer Regierungsstudie von 2006 muss das Land in den nächsten zehn Jahren jährlich 400.000 Jobs schaffen, wenn es die Massenarbeitslosigkeit beenden will. Für die Arbeitslosenaktivistin Samira kommt eine Auswanderung aber nicht in Frage: „Viele von uns haben im Ausland studiert. Statt dort zu bleiben, haben wir uns bewusst dafür entschieden zurückzukehren! Wir lieben unser Land, wir wollen helfen es aufzubauen. Deswegen protestieren wir hier: Wir wollen eine Zukunft für uns und unsere Kinder. Wir wollen hier bleiben!“

David Siebert ist Soziologe und freier Journalist und recherchierte vor den Wahlen in Marokko.

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