„Wer nicht stiehlt, ist ein Dummkopf“

Von Yvonne A. Kienesberger · · 2011/07

Zunehmende Gewalt und Kriminalität in den urbanen Zentren ist ein weltweites Phänomen, besonders ausgeprägt ist es in Lateinamerika. Eine Südwind-Mitarbeiterin machte in Argentinien kürzlich ihre eigene Erfahrung – und begab sich daraufhin auf eine Suche nach den Motiven.

Die Tür der U-Bahn in Buenos Aires geht auf. Herein kommt ein bunt angezogener junger Mann, einen Bücherturm auf den Armen balanzierend, der bis über seinen Kopf reicht. Wieder jemand, der dir etwas verkaufen will. Die meisten Anwesenden drehen sich demonstrativ um und hören weg. Schade, denn was er zu erzählen hat, ist interessant. Er verkauft Bücher zum Thema Buddhismus und meint, damit ein Mittel gegen die steigende Unsicherheit in seiner Umgebung gefunden zu haben. „Wenn wir uns wieder ein bisschen mehr auf uns und unsere Nächsten besinnen würden“, erklärt er in seiner kleinen Ansprache, die keiner hört, „dann würden wir das Problem der Gewaltanwendung auf der Straße in den Griff bekommen.“ Ein schöner Gedanke, aber ob das so einfach ist?

Gerade drei Wochen vorher hatte man mir in Córdoba, der zweitgrößten Stadt Argentiniens, auf einer Hauptstraße und bei Tageslicht meine Handtasche gestohlen. Eigentlich ist das keine Meldung wert, es passiert täglich und überall auf der Welt. Als ich danach zitternd vom Schock und vor Wut nach Hause kam, machte mich aber gerade die Einstellung meiner Nachbarinnen nachdenklich. „Passiert uns allen einmal“, sagten sie mir, gleichgültig mit den Schultern zuckend. Das war es also? Ein „das ist einfach so, da kann man nichts machen?“ Damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Ich machte mich auf die Suche nach den an dem Diebstahl beteiligten Personen und sah mir ihr Umfeld und ihre Beweggründe genauer an.

Sie sind cool und lässig mit ihren übergroßen Jeans und den verkehrt herum aufgesetzten Baseball-Kappen. Die weißen Adidas-Schuhe blitzen wie neu: wichtige Statussymbole, wichtiger als das Essen auf dem Tisch. Die jungen Burschen sind bekannt und gefürchtet in ihrem Viertel und darüber hinaus. Das freut sie. Das gibt ihnen die Möglichkeit, Kontrolle auszuüben in einer ansonsten ausweg- und aussichtslosen Lebenssituation. Die Mutter kümmert sich um die jüngeren Geschwister, der Vater zieht abends mit dem Pferdeanhänger in die Stadt, um nach Kartons zu suchen, die er kiloweise an Recycling-Unternehmen verkaufen kann. Der Erlös plus das vom Staat gezahlte Kindergeld sind die einzigen Einkommensquellen des großen Haushalts.

In der Schule waren die Kids schon lange nicht mehr. Sie sehen keinen Sinn darin, Mathematik oder Englisch zu lernen. Wozu auch, wenn die eigene Zukunft doch nur in Richtung Kartonsammler weist. Raus aus dem Viertel kommt man sowieso nicht. Und hier überlebt nur der Stärkere – mit Ellbogentechnik, nicht mit Sprachkenntnissen. Die Viertel werden unter Banden aufgeteilt. In einer solchen Karriere zu machen, davon träumen die Jungen. Eine berufliche Karriere wurde nie auch nur angedacht. Zum Dieb wird man schließlich nicht geboren, sondern gemacht.

Die Zeugen drehen sich einfach um und hören und sehen nichts. Drei Männer, einer davon ein privater Sicherheitsbeamter einer Tankstelle. Ich hänge noch immer am anderen Ende meiner Handtasche, die mir ein schlacksiger Jugendlicher von der Schulter reißen und damit davonlaufen wollte. Er hat nicht mit meiner Gegenwehr gerechnet. Ich schreie, was das Zeug hält, und versetze ihn damit ganz offensichtlich in Panik. Eine gefährliche Situation. Dessen werde ich mir erst bewusst, als ich neben mir einen Pistolenschuss höre. Ich komme zu mir und lasse den Dieb mit der Tasche laufen. Danach beginne ich zu zittern, setze mich an den Straßenrand. Die Zeugen kümmern sich noch immer nicht um mich, angestrengt blicken sie in eine andere Richtung.

Später am Tag finde ich einen der Zeugen wieder und befrage auch den Sicherheitsbeamten, der den Warnschuss abgegeben hat. Nachdem ich verspreche, das Gesagte nur für meinen Artikel zu verwenden und keinesfalls für eine Aussage bei der Polizei, geben sie mir Antworten: „Ich wohne hier in der Nähe mit meiner Familie. Es ist einfach besser, bei so was wegzusehen. Sonst kommen die womöglich und tun deinen Kindern was an.“ Der Sicherheitsbeamte gibt seinem Warnschuss noch eins drauf und verkündet, die einzige Lösung des Problems sei, „überhaupt alle zu erschießen“. Ich bekomme Name und Adresse des Täters. Nutzen werde ich das aber nicht.

Die Polizei, mein „Freund und Helfer“, wie es mir als Kind beigebracht wurde, kommt eine halbe Stunde nach meinem Anruf in meine Wohnung, um meine Daten aufzunehmen. Ich erzähle vom Überfall, gebe ungenaue Angaben, sage nichts von dem Warnschuss, um den Sicherheitsbeamten der Tankstelle zu schützen, und sage nichts zum Täter – um mich zu schützen. Er hat meine Haustürschlüssel und er weiß, wo ich wohne. Und den Polizisten vertrauen, das sollte man lieber nicht. „Wenn ich einen Beamten sehe, dann wechsle ich die Straßenseite“, erklärt mir ein Freund. „Die sind schlimmer als jeder Verbrecher, manchmal schicken sie selbst die Leute stehlen“, entrüstet sich ein anderer.

Der Gerichtsbeamte, bei dem ich schließlich noch den Überfall anzeige, um ein offizielles Papier zur Beantragung eines neuen Führerscheins zu bekommen, weiß, dass ich mehr weiß, es aber nicht sage.

„Wer nicht stiehlt, ist ein Dummkopf“, so lautet eine Textzeile aus einem in ganz Argentinien bekannten Tango. Ökonomische Krisen sind fast schon Gewohnheitssache. Jeder kämpft ums eigene Überleben. Da kann man sich nicht wirklich an Regeln und Gesetze halten. An diesem Tag höre ich einen argentinischen Radiomoderator sagen: „Die Frage ist nicht: WARUM stehlen sie? Sondern: warum stehlen sie nicht ÖFTER und MEHR?“ Er hat Recht. Der Mittelstand verschwindet aus der argentinischen Gesellschaft. Wenn man durch die Straßen von Buenos Aires spaziert, sieht man die immer größer werdenden Gegensätze zwischen Arm und Reich. Da liegen im Seiteneingang von Nobelhotels Obdachlose auf dem Gehsteig. Da steht neben dem neuesten Mercedes-Modell der Pferdewagen der Müllsammler auf dem Parkplatz. Wenn man es so sieht, muss man sich wirklich fragen: Warum passiert nicht mehr?

Wie kann man den wachsenden Kriminalitätsraten in den großen Städten dieser Welt Herr werden und die steigende Gewaltbereitschaft in den Griff bekommen? Was muss der Staat unternehmen, was kann der Einzelne dazu beitragen, sein Umfeld sicherer zu machen?

Wir können „uns einsperren“, um in Sicherheit zu sein. In Südafrika verschließen sich Autos von selbst, wenn man etwas länger stehen bleibt. Ein Mechanismus, der vor Überfällen schützen soll. Weltweit werden private Sicherheitsdienste engagiert, um das eigene Hab und Gut rund um die Uhr zu bewachen. Daneben entstehen private Bürgerwehren, Zusammenschlüsse von Nachbarn, die im Schichtwechsel die Häuser des eigenen Viertels bewachen. Man versteckt sich in Luxusghettos hinter Stacheldraht und Alarmanlagen. So entstehen mittlerweile auch in Argentinien und dem Rest Lateinamerikas riesige Wohnanlagen mit eigenen Schulen und Krankenhäusern abseits der Stadtzentren, mit Poolanlagen oder gar Golfplatz ausgestattet.

Wir könnten aber auch „die anderen wegsperren“. So werden in Indien und Brasilien große Mauern um Armenviertel errichtet. Auch China hat bei den Olympischen Spielen das naive, aber sehr bequeme Mauer-Konzept angewandt: „Was man nicht sieht, ist auch nicht da.“

Derzeit ist man in Europa und Nordamerika aber noch überzeugt davon, dass die Überwachung der BürgerInnen mit modernsten Techniken ausreicht, um die Gesellschaft vor Attacken aller Art, vom Terroranschlag über Drogenkriminalität bis hin zu Diebstahl zu schützen. Bereitwillig gibt man seine Privatheit auf, lässt sich bei allen seinen Tätigkeiten beobachten, wird „gläsern“, um sich wieder sicher fühlen zu können.

In Argentinien hat eine neue Sicherheitsministerin Gewalt und Kriminalität den Kampf angesagt. Das beginnt mit einer Kampagne zum Schutz von Opfern häuslicher Gewalt. Die Bürger haben außerdem die Möglichkeit, ihre zu Hause gehorteten Waffen anonym abzugeben. Ob diese Aktion aber von Erfolg gekrönt sein wird, wird sich erst zeigen. Viel zu sehr ist man hierzulande dazu erzogen worden, für sich selbst zu sorgen – und dazu gehört womöglich auch der Besitz einer eigenen Waffe. „Schlussendlich ist jeder auf sich allein gestellt“, erklärt mir denn auch ein Anbieter von Selbstverteidigungskursen in Córdoba. Er bringt schon kleinsten Kindern bei, wie sie sich vor Übergriffen schützen können. Das Geschäft mit der Angst boomt überall auf der Welt.

Am Ende bleibt noch die Flucht aus der Großstadt. Auch in Argentinien zieht es die Menschen aufs Land, und wenn es noch so abgelegen ist, um ihren Kindern wieder Sicherheit bieten zu können.

Welcher dieser Ansätze ist wohl am zielführendsten? Ich selbst spaziere mittlerweile wieder mit Handtasche durch die Gegend. Einen angebotenen Pfefferspray habe ich abgelehnt. Dafür habe ich das Buch über Buddhismus gekauft – man kann ja nie wissen …

Die österreichische Autorin und Journalistin Yvonne A. Kienesberger lebte zwei Jahre in Ushuaia, im äußersten Süden Argentiniens, und zog kürzlich in das größere und wärmere Córdoba im Norden des Landes.

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