Den Westen hat man zweifelsohne hinter sich gelassen, dort, wo die Männer Röcke tragen und Händchen halten. Das so genannte Morgenland fängt an, wo Frauen nur verschleiert auf die Straße gehen und der Muezzin noch vor Tagesanbruch mit eindringlicher Stimme durch krachende Lautsprecher zum Gebet ruft. Vormittags pulsiert der Markt in verwinkelten Gassen, die keine Namen haben; Hühner wechseln gackernd ihre Besitzer, es riecht nach Räucherstäbchen, Kreuzkümmel und Kardamom. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkt ein Jeep, das Reserverad mit einer Schutzplane abgedeckt, auf der Saddam Hussein abgebildet ist. Lächelnd und in Siegerpose, Maschinengewehr im Anschlag.
Der Jemen, fruchtbarstes und am dichtesten besiedeltes Land der arabischen Halbinsel, lag an der legendären Weihrauchstraße und begründete seinen einstigen Reichtum auf eben den aromatischen Körnern, die auch heute noch bei keiner Feier fehlen dürfen. Erst Jahrhunderte später kam als Hauptexportgut Kaffee hinzu. Während der Antike wurde das Land aufgrund seiner Prosperität „arabia felix“ genannt, heute zählt es zu den ärmsten der Erde.
Die Auswirkungen des Zweiten Golfkriegs (1991) warfen den Jemen in seiner Entwicklung weit zurück. Sämtliche Unterstützung aus den Golfstaaten wurde gestrichen, als sich das Land im Kuwait-Konflikt nicht klar auf die saudi-arabische Seite stellte. Zugleich erfolgte die Ausweisung rund einer Million jemenitischer GastarbeiterInnen, die in ihre Heimat zurückkehren mussten, wo es für sie keine Verdienstmöglichkeit gab. Jemen stand vor dem wirtschaftlichen und sozialen Ruin. Und Arbeitslosigkeit stellt bis heute eines der größten Probleme dar, mit denen das Entwicklungsland zu kämpfen hat.
Der 22-jährige Ibrahim aus Taiz macht sich jedoch keine Zukunftssorgen. Er hat bereits einen Beruf: Als Imam ist er nicht nur religiöser Führer, sondern predigt auch über politische und gesellschaftliche Belange. Wie fast alle jungen Männer seines Alters ist er verheiratet. Der vollbärtige Schlüsselträger der Jahrhunderte alten Aschrafija-Moschee führt TouristInnen stolz über das Gelände, betreten dürfen sie die mit Teppich ausgelegten heiligen Hallen allerdings nicht. Ibrahim, der zugleich Lehrer an der hiesigen Koranschule ist, stellt klar: „Wir brauchen keine Universitäten oder Akademien. Alles, was Muslime wissen müssen, erfahren sie in Koranschulen und Moscheen.“
Viele Menschen seines Alters sehen das anders. Mehr als 18.000 Studierende verzeichnen die 16 Universitäten derzeit landesweit, fast die Hälfte davon sind Frauen. Auch ausländische Studierende sind darunter, eine von ihnen ist die 24-jährige Laurna Strikwerda. Sie hat ein Stipendium vom US-amerikanischen Institut für jemenitische Studien erhalten und war vor Antritt ihres Studienaufenthalts besorgt über die Berichte von Entführungen gewesen. „Doch seit ich hier bin, fühle ich mich etwa um elf in der Nacht sicherer in einer dunklen Straße als in den USA“, erzählt die aus Chicago stammende Studentin. Statistiken drücken das Gefühl Laurnas in klaren Zahlen aus. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, ist bis zu 90-mal geringer als in Großstädten in den USA.
„Es ist wichtig für Amerika, über den Mittleren Ostern zu lernen, sich mit den komplexen Zusammenhängen und Realitäten der Länder vertraut zu machen und nicht nur einige wenige Dinge auf Fox News darüber aufzuschnappen“, ist sich Laurna, die nach ihrem Studium gerne für die Regierung oder eine Nichtregierungsorganisation im Jemen arbeiten würde, sicher.
Doch nicht nur TouristInnen und Studierende aus der „Ersten Welt“ fühlen sich vom Jemen angezogen. Jedes Jahr kommen tausende AfrikanerInnen, meist aus Äthiopien und Somalia – ohne Visum und illegal. Sie verrichten in den Großstädten gering geschätzte Tätigkeiten am untersten Rand der Gesellschaft: Straßenkehrer, Müllmänner, Steinhauer und Tagelöhner – Männer und Frauen. Hinter ihnen liegt eine zumeist gefahrvolle Meeresüberquerung, bei der alljährlich Hunderte ums Leben kommen. Die Wenigsten schaffen es, sich einigermaßen zu integrieren, zu deutlich sichtbar ist ihre Herkunft. Afrikanische Kinder sammeln Plastikflaschen auf den mit Müll übersäten Straßen, Honighändler geben ihnen ein paar Rial dafür (1Euro = 280 Rial).
„Inshalla“ ist das Wort, das früher oder später in jeder Unterhaltung fällt. Es bedeutet soviel wie „Wenn Gott will“. Und während dies anfangs, ob des häufigen Gebrauchs, wie eine Floskel wirkt, wird bald klar, dass sich wirklich in ein von Allah gegebenes Schicksal fügt, wer es ausspricht. Ob nun Autounfall, Verlust der Arbeit oder eine schwere Krankheit – es wird mit Fassung angenommen und mit Würde getragen, weil es Gottes Wille ist. Tiefe Religiosität ist die treibende Kraft der gesamten Bevölkerung, vom gebildeten Mitglied der Regierung bis zum einfachen Rosinenverkäufer.
Frauen und Männer haben kaum sich überschneidende Lebensbereiche und treten so gut wie überhaupt nicht gemeinsam auf. Der einzige Bereich, in dem sich beide Geschlechter begegnen, ist unter dem eigenen Dach unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Hier leben oft mehrere Generationen zusammen.
Die 26-jährige Schweizerin Miriam Imesch hat mehr als fünf Monate im Jemen verbracht, um Hebräisch und Arabisch zu lernen. „Die Männer sieht man manchmal auf den Feldern, aber die, die wirklich arbeiten, sind die Frauen“, so ihre Erfahrung. Als Ausländerin verschleierte sich Miriam zumeist und hatte Gelegenheit, den Alltag dieser Frauen kennen zu lernen. „Mit ihnen wird das Gespräch sehr schnell eintönig. Es dreht sich alles ums Heiraten, Kinder Kriegen und Haushalten.“
Jemen1990 vereinigte sich der sozialistische Südjemen (ehemals britisches Protektorat) mit dem Norden (früher Teil des Osmanischen Reiches) des Landes. Seither ist die Republik auf einem schwierigen Weg zur Demokratie: Ein ebenso kurzer wie blutiger Bürgerkrieg tobte nur ein Jahr nach den ersten freien Wahlen 1993. Bis heute ist die Scharia Rechtsquelle der gemeinsamen Gesetzgebung.
Der Allgemeine Volkskongress (MSA) stellt mit großer Mehrheit die Regierung und das Staatsoberhaupt.
Webtippswww.derjemen.de – Nützliches und Interessantes über den Jemen
www.yobserver.com – Yemen Observer; englischsprachige Wochenzeitung
„Islam ist Demokratie“, ist Ahmed Alwan Mulhi Al-Alwani, jemenitischer Botschafter in Wien, überzeugt. Wenn sich jeder an den Koran hielte, wären das Wohl aller und Gerechtigkeit gesichert. Das hört sich zunächst sehr radikal an. Der Botschafter führt weiter aus, dass es verschiedene Formen von Demokratie gäbe, die untereinander nicht einfach zu vergleichen sind. „Ob europäisches, islamisches oder amerikanisches System, Demokratie ist von Anfang an wie ein neugeborenes Kind, das schreit“, vergleicht er bildhaft. Das spätere soziale Verhalten hänge davon ab, wie das Kind erzogen werde, ob es gefördert werde, sich eine eigene Meinung zu bilden, sich durchzusetzen oder eher dazu, still zu sein und anzunehmen, was ihm zuteil wird.
„Wichtig sind wechselseitiger Respekt und Wertschätzung“, betont der Botschafter, der seit September letzten Jahres sein Land in Österreich vertritt.
Dass die Idee der Demokratie aus Europa kam, bestreitet der in akzentfreiem Deutsch sprechende Mann nicht, betont dabei aber rasch, dass die arabische Kultur eine sehr viel ältere ist und wesentliche Errungenschaften wie die Zahlen ursprünglich aus Arabien kamen.
Nur einer Sache wird fast gleichviel Bedeutung beigemessen wie Allah und dem fünf Mal täglich an ihn gerichteten Gebet. Es ist ausgerechnet eine Pflanze, ihre Blätter genauer genommen – klein, von unscheinbarem Wuchs, „Qat“ genannt. Die frischen Blätter werden zerkaut und auf einer Wangenseite verstaut. Die angesammelte Menge schmeckt ein wenig nach jungem Mais und erreicht nicht selten die Größe eine Männerfaust. Nachmittags treffen sich die Männer und mittlerweile eine wachsende Anzahl von Frauen in der mafrash, dem Wohnzimmer, um Qat zu kauen, Wasserpfeife zu rauchen und um Neuigkeiten auszutauschen. Laut Yemen Observer, einer englischsprachigen Wochenzeitung, gehen täglich 20 Millionen Arbeitsstunden durch Qat-Zusammenkünfte verloren. Viele Männer ohne fixes Einkommen geben mehr als die Hälfte des Geldes, das ihnen zur Verfügung steht, für Qat aus.
Was für viele teures und einziges Laster, ist täglicher Lebensunterhalt für die tausenden Qat-Bauern des Landes, die auch im Hochland unter schwierigsten Bedingungen Terrassen anlegen, um der Natur das begehrte Rauschkraut abzuringen. Andere bauen daneben Kaffee, Hirse und Mais an. Reich wird man davon nicht, doch wenn Gott will, bringt der Verkauf in die Stadt genug zum Leben.