Easterine Iralu ist die einzige Romanautorin im indischen Nagaland. Fast alle ihrer Werke erschienen bereits in deutscher Übersetzung.
„Ich hatte Glück. Ich konnte noch mit einigen alten Geschichtenerzählern zusammenarbeiten. Es sind ja fast keine mehr am Leben, und mit jedem, der stirbt, geht ein weiterer Teil unserer Tradition verloren. Ich habe auch andere alte Leute aus der Ethnie der Naga getroffen, um ihre Erinnerungen an die Vergangenheit aufzuzeichnen.“ Für Easterine Iralu ist die Beschäftigung mit der Geschichte und Kultur der Naga inzwischen zu einer Lebensaufgabe geworden. Die Schriftstellerin gehört selbst den Angami an, einer Gruppe innerhalb der Naga, die im Nordosten von Indien leben. Easterine Iralu zeichnet fiktive Geschichten auf – wie in ihrem Buch „Der Raupengatte und andere Märchen der Naga“ –, und sie verarbeitet ihre Forschungen, Erfahrungen und Reflexionen zu den Naga in Romanen, von denen mit „Tage des Zorns“ und „Khonoma: Erinnerungen an ein Dorf der Naga“ nun zwei in deutscher Übersetzung vorliegen.
Den Anstoß zu dieser Auseinandersetzung gab ein Seminar über postkoloniale Literatur, das Easterine Iralu während ihres Anglistik-Studiums besuchte. Besonders die Texte afrikanischer DichterInnen und SchriftstellerInnen beeindruckten sie – „denn auch diese Afrikaner beschäftigten sich mit ihrer eigenen tribalen Geschichte und Kultur. Ihre Betrachtungen gaben mir auch das Vertrauen in meine Naga-Kultur zurück“.
Die 1959 geborene Easterine Iralu gehört einer Bildungsschicht an, die sich nach der britischen Kolonialisierung des indischen Nordwestens herausbildete. Mit dem Vertrag vom 27. März 1880 zwischen der britischen Krone und dem Ältestenrat des Dorfes Khonoma endete die Unabhängigkeit der Naga, die bis dahin von keiner regionalen Macht – weder den Chinesen noch den Burmesen – unterworfen worden waren. Unter dem Einfluss der Briten und bald auch der Missionare ging viel von jenen Traditionen, Praktiken und Glaubensvorstellungen verloren, die Easterine Iralu in „Khonoma“ beschreibt. Iralus Großvater war der erste Mann aus dem Dorf, der eine westlich geprägte medizinische Ausbildung erhielt. Ihre Eltern und sie selbst besuchten christliche Schulen, in denen ihnen der eurozentrische Blick vermittelt wurde. Easterine Iralu begann sich für ihre eigene Kultur zu schämen.
„Heute bin ich weder stolz auf meine Kultur noch verachte ich sie. Ich habe sie durch meine Forschungen und Bücher sehr gut verstehen gelernt, ich habe auch kein Problem mehr mit der Kopfjagd, die einmal Teil der Naga-Kultur war. Sie war Teil der Männlichkeitsvorstellungen, und sie diente der Selbstverteidigung in den Machtkämpfen zwischen den Naga-Dörfern. Ich möchte mit meinen Werken zeigen, dass man die Welt der Naga nicht auf Kopfjagd und den Freiheitskampf reduzieren kann, obwohl dieser Kampf seit Jahrzehnten unser Leben prägt.“
Die Wurzeln des Freiheitskampfs, auf den Easterine Iralu verweist, liegen im frühen 20. Jahrhundert. Als der Indische Nationalkongress mit den Briten über die Unabhängigkeit Indiens zu verhandeln begann, legte eine Gruppe von Naga den Briten ein eigenes Memorandum vor. Darin stellten sie fest, dass die Naga nicht von Hindus und Muslimen beherrscht werden wollten, sie wollten entweder ein britisches Protektorat bleiben oder wieder ihre einstige Unabhängigkeit zurückerlangen. Am 14. August 1947 – einen Tag vor der Unabhängigkeit des indischen Subkontinents – erklärte der Naga-Nationalrat die Unabhängigkeit von Nagaland. Doch der neue indische Staat war nicht bereit, diesen Freiheitsbestrebungen nachzugeben. „Der Freiheitskampf der Naga war gerechtfertigt“, sagt Easterine Iralu. „Er begann als friedliche Bewegung, doch bald griff ein Teil der Naga zu den Waffen. Dazu kamen Machtkämpfe innerhalb der Naga. Es lief alles in die falsche Richtung.“ Der indische Staat reagierte mit extremer Gewalt. Viele Naga wurden getötet, Dörfer niedergebrannt, Frauen vergewaltigt. Viele suchten Zuflucht in den Kirchen, infolge des Konflikts konvertierte die Mehrheit der Naga zum Christentum.
Seit 2000 gilt ein fragiler Waffenstillstand. „Die Menschen wollen Frieden“, sagt Easterine Iralu, die selbst aufgrund familiärer Bande zwischen die Fronten geriet und seit einigen Jahren im Exil in Norwegen lebt. Was der Freiheitskampf für die Naga bedeutet, schildert sie in ihrem jüngsten Roman „Bitter Wormwood“, der vorerst nur in englischer Sprache vorliegt. Verfasst hat sie ihn unter ihrem alten Namen Easterine Kire.
Brigtte Voykowitsch ist freie Journalistin mit Spezialisierung auf Indien. Sie lebt in Wien.
Werke von Easterine Iralu:
„Der Raupengatte und andere Märchen der Naga“ (Löcker-Verlag 2010)
„Tage des Zorns“ (Brandes & Apsel-Verlag 2010)
„Khonoma: Erinnerungen an ein Dorf der Naga“ (Löcker 2011)
Im Museum für Völkerkunde Wien läuft noch bis 11. Juni eine Ausstellung über die Naga (siehe SWM 1-2/12 S.9).
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