Conchita Brando steht in der Bodega an der Straßenecke und lässt sich einen halben Liter Speiseöl in eine Plastikflasche abfüllen. Lächelnd nimmt sie die halbvolle Flasche mit dem leuchtend gelben Sonnenblumenöl entgegen und reicht ein rechteckiges Heftchen über den Tresen, die libreta. Darin ist alles aufgeführt, auf das sie und ihr Mann Anspruch haben: das pappige Stück Brot, das sie bei der Bäckerei, eine Straße weiter, tagtäglich abholt, die sieben Pfund Reis, das gute Pfund Bohnen oder die fünf Pfund Zucker, die jedem Kubaner und jeder Kubanerin pro Monat zustehen. Sogar Kichererbsen (290 Gramm) und Kaffee (115 Gramm) hat der junge Verkäufer mit den dunklen, mit Gel fixierten Haaren heute im Angebot. Der Gang zur Bodega lohnt sich heute für die 84-jährige pensionierte Schauspielerin und ihren 76-jährigen Mann.
„Nichts symbolisiert so treffend die Tatsache, dass unsere Wirtschaft nicht funktioniert, wie die libreta“, unter Kubas Soziawissenschaftlern längst ein geflügeltes Wort. Und auch derzeit dreht sich auf der Insel wieder einmal vieles um die Wirtschaft, denn deren Perspektiven sind nach drei Hurrikanen, die zwischen Ende August und Anfang November über die Insel tobten, und der internationalen Finanzkrise alles andere als rosig. „Wir müssen den Gürtel enger schnallen“, lautet die Parole von Staatschef Raúl Castro, der bewusst darauf verzichtete, eine große Feier zum 50. Jahrestag der Revolution zu veranstalten. Selbst die engen Freunde aus Caracas, La Paz und Peking blieben zuhause und grüßten nur herzlich aus der Ferne.
In Santiago de Cuba, wo die zentrale Feier stattfand, wollte man die großen Buffets vermeiden, um die Bevölkerung nicht vor den Kopf zu stoßen. Deren Versorgungslage ist nämlich seit Monaten nicht allzu rosig. Auf den Bauernmärkten der Insel sind frische Agrarprodukte rar und teuer. Der zentrale Grund dafür ist die marode Landwirtschaft, die von Jahr zu Jahr weniger produziert. Einzig im Jahr 2007 konnte die Produktion etwas zulegen, doch generell ist die Motivation der Genossenschaftsbauern, Lebensmittel zu produzieren, ausgesprochen gedämpft. Das weiß auch Staatschef Raúl Castro, und deshalb hat er Reformen angekündigt und ein Programm zur Verteilung von staatlichem Ackerland an Privatbauern begonnen. Doch das Interesse der Bauern ist recht verhalten. Das bestätigten nicht nur die Zahlen aus dem Agrarministerium, sondern auch eine kleine Fahrt über Land.
Klapprige Kühe mit kleinen Eutern und struppige, von Buschwerk dominierte Felder prägen zum Beispiel das Ambiente zwischen der ehemaligen Zuckerstadt Matanzas und der Provinzstadt Colón. Felder, auf denen produziert wird, wo Menschen mit Hacke und Machete schuften, Traktoren pflügen oder geerntet wird, sind die Ausnahme. Kaum nachzuvollziehen, denn nur wenige Kilometer entfernt befindet sich die Touristenhochburg Varadero, wo unzählige Hotels tagtäglich mit Lebensmitteln beliefert werden müssen. „Doch denen dürfen wir nichts anbieten“, erklärt Rita Morris. Sie leitet eine 37 Hektar große Farm in Cardenas. Auf der von der evangelischen Kirche aufgebauten Farm wird Gemüse, aber auch Obst und Hülsenfrüchte ökologisch angebaut. Doch die Produkte dürfen nicht frei vermarktet werden. „Nicht einmal an die Leute aus der Nachbarschaft dürfen wir verkaufen“, ärgert sich die kräftige, überaus agile Direktorin. Alles muss an den Staat und dessen Einrichtungen in der Landeswährung, dem Peso nacional, verkauft werden.
„Widersprüche, die allerorten in Kuba auftauchen und auf die Existenz der doppelten Währung zurückzuführen sind“, sagt Belinda Salas. „Wir leben in einem System ökonomischer Apartheid, denn wir werden mit einer Währung bezahlt, für die wir viele Produkte nicht kaufen können. Dagegen wehren wir uns“, erklärt die unabhängige Journalistin. Sie ist Präsidentin von Flamur, einer gut eintausend Mitglieder zählenden Frauenorganisation. Die hat sich nicht nur zum Ziel gesetzt, die Situation der Frauen in den ländlichen Regionen zu verbessern, sondern auch dafür zu sorgen, dass in Kuba nur noch eine Währung zirkuliert – nämlich der Peso nacional. „Mit der gleichen Münze“ heißt die Kampagne, die Flamur initiiert hat und die nicht nur Aktionen des zivilen Ungehorsams beinhaltet, sondern auch das Sammeln von Unterschriften, um ein Referendum über die doppelte Währung zu initiieren. „Laut der kubanischen Verfassung ist es nötig, zehntausend Unterschriften zu sammeln und sie beim kubanischen Parlament mit einem entsprechenden Antrag für ein Referendum zu hinterlegen. Das haben wir am 21. November 2007 und nun erneut am 20. November 2008 gemacht. Nun warten wir auf eine Antwort der Verantwortlichen“, erklärt die 37-jährige Frau.
Mit leistungsabhängigen Löhnen, Lohnzuschlägen und anderen Anreizen will die Regierung die Produktivität erhöhen, um mittelfristig zu einer nationalen Währung zurückkehren. Ein durchaus vernünftiger Ansatz aus wissenschaftlicher Perspektive, doch Versprechungen dieser Art interessieren die Bevölkerung nur am Rande. Die will spürbare Reformen, will nicht länger warten – und hilft sich selbst. Dienst nach Vorschrift lautet das Motto vielerorts, und die allermeisten Kubaner und Kubanerinnen lassen hier und da etwas mitgehen und halten die Augen nach Nebeneinkünften offen.
In Kuba hat sich eine Interessengemeinschaft von Unterbezahlten, die ihren Lohn nach Kräften auf Kosten des Arbeitgebers aufbessern, entwickelt. Das hat Spuren hinterlassen. Das einst hoch gelobte Gesundheitssystem hat mittlerweile genauso Schlagseite wie das Bildungssystem. Während im ersteren Medikamente en masse verschwinden, gehen den Schulen die Lehrkräfte aus, weil die Gehälter hinten und vorne nicht reichen. Alltag in Kuba, wo die Parolen von einst kaum mehr ziehen und wo die Leute sich mehr und mehr nur noch um ihre eigenen Belange kümmern und sich ins Private zurückziehen. So hält es auch Conchita Brando. Politik spielt für sie keine Rolle, durchkommen heißt die Devise, und da kann sie auf die Unterstützung ihrer Tochter in Panama zählen. Ein wertvoller Vorteil im nachrevolutionären Kuba von heute.
Der Nachwuchs hat den Glauben an eine Lösung der Dauerkrise ohnehin schon verloren. Viele der Enkel der Revolution agieren selbständig, suchen nach eigenen Wegen, gehen oft ans Limit des Erlaubten und manchmal darüber hinaus, um mehr Freiräume zu schaffen. Kein Einzelfall, denn vor allem im kulturellen Bereich ist in den letzten Jahren einiges in Bewegung gekommen. Eine neue Generation von Raperos, Hip Hoppern, sorgt mit kompromisslosen Texten für Kritik am eintönigen revolutionären Hier und Jetzt. Dann sind da Kubas Blogger, die mit Geschichten aus der kubanischen Realität national und vor allem international für einiges Aufsehen gesorgt haben.
„Lasst sie machen“, scheint in den allermeisten Fällen die Devise von oben zu lauten, und die Enkel der Revolution nutzen den relativen Freiraum, um eigene Projekte auf die Beine zu stellen. Für einen anderen Weg abseits der ideologischen Polarisierung plädieren zahlreiche Musiker wie Raúl Paz, Kelvis Ochoa oder Yusa, aber auch Schriftsteller, Maler und Bildhauer. Die suchen den Dialog mit den kubanischen Kollegen im Exil und haben längst Netzwerke aufgebaut, die mehr und mehr zum Tragen kommen. Sie engagieren sich für einen „dritten Weg“, abseits der hinlänglich bekannten Schablonen.
„Wer, wenn nicht wir Künstler, ist dafür verantwortlich, Tabus und Konventionen zu brechen?“, sagt Javier Guerra und deutet wie zum Beweis auf eine der typischen kubanischen Banknoten mit Szenen aus dem revolutionären Kampf. Die hängen in mannsgroßen Formaten in seinem Atelier, doch dort, wo normalerweise das Antlitz eines verblichenen Revolutionshelden prangt, ist ein Jugendfoto von Raúl Castro zu sehen. Das Spielen mit den Symbolen der Revolution und den Köpfen der politischen Köpfe stand in Kuba lange Jahre auf dem Index. Künstler wie Guerra oder sein Freund Raúl Paz, der aus Frankreich nach Kuba zurückkehrte, spielen mit diesen Symbolen und wollen aufrütteln. „Die Bevölkerung muss am Wandel in Kuba teilhaben, ihn mitgestalten. Der Wandel kann nicht von oben kommen, aber dazu muss man die Leute aus ihrer Apathie wecken“, mahnt Raúl Paz. Er setzt dem latenten Dämmerzustand den musikalischen Weckruf entgegen.