Warten auf bessere Zeiten

Von Monika Kalcsics · · 2000/01

Zum 21. Mal präsentierte sich das Internationale Filmfestival in Havanna einem breiten und filmbegeisterten Publikum. Ein Bericht über das neue lateinamerikanische Kino und die Produktionsbedingungen in Kuba in der Zeit der „Sonderperiode“

Hunderte von Menschen tummeln sich vor den verschlossenen Eingangstüren des Kino Payret in La Habana Vieja, der Altstadt von Havanna. „Seit vier Stunden warte ich hier nun schon darauf, daß wir Einlaß finden, um uns den Film anschauen zu können“, erzählt eine Frau mittleren Alters. „Es gab jedoch einen Stromausfall im ganzen Viertel. Wir wissen nicht, wie lange das noch dauern kann“, meint die Frau. Ohne sich über diesen Zustand zu beschweren, setzt sich auf die Gehsteigkante vor dem Kino und fächelt sich mit der Programmzeitschrift etwas kühle Luft zu.

Es ist Dezember in Havanna, das feuchttropische Klima macht nicht nur den zahlreichen ausländischen TouristInnen zu schaffen. In den ersten zwei Wochen dieses Monats verwandelt sich die Hauptstadt Kubas alljährlich in das Zentrum des lateinamerikanischen Filmgeschehens. Heuer war der Publikumsandrang besonders stark. Mehr als eine Million Besucherinnen und Besucher drängten sich an den zwanzig Schauplätzen des Festival del Nuevo Cine Latinoamericano. Menschentrauben vor den Kinos gehören in dieser Zeit genauso zum Alltagsbild wie die Diskussionsrunden des Publikums mit spontanem Meinungsaustausch über das eben Gesehene – selbst in den öffentlichen Verkehrsmitteln und Sammeltaxis.

Begonnen hat es vor dreißig Jahren im chilenischen Vina (~ am n) del Mar als ein inzwischen legendäres Treffen der Cineasten Lateinamerikas. Sie wollten einander und ihre Werke kennenlernen und die bis dahin vereinzelten Aktivitäten zu gemeinsamen Strategien bündeln. Durch Pinochets Militärputsch wurden weitere Begegnungen jedoch verhindert. Vor 21 Jahren sahen dann die Kubaner eine Chance, die Debatte fortzuführen. „Mittlerweile“, so der Direktor des Filmfestivals, Iván Giroud, „erfüllt es unter anderem die Funktion, eine Lobby für den lateinamerikanischen Film zu bilden. Hier treffen sich nicht nur Cineasten aus Lateinamerika, sondern zahlreiche am lateinamerikanischen Film Interessierte aus Europa, den USA und Kanada, die mitunter auch ihre eigenen Projekte vorstellen.“

Die wartenden Menschen vor dem Kino Payret freuen sich über die Tatsache, daß sie hier nicht nur Filme aus Kuba und anderen lateinamerikanischen Ländern sehen können. „Das Festival ist großartig“, erzählt ein Mann strahlend, „weil es Barrieren zwischen den verschiedenen Kulturen überwindet. Ein Austausch findet statt, den wir sonst nie erleben können. Es bietet uns die einzige Möglichkeit, Filme aus aller Welt zu sehen. Filme, die man im Fernsehen nicht zeigt und unter dem Jahr auch nicht in den Kinos.“

„Viele von uns hier in Havanna und aus den Provinzen“, wirft ein weiterer Wartender ein, „nehmen für diese Zeit des Jahres eigens Urlaub, um möglichst viele Filme anschauen zu können.“ Und die Fraiu von vorhin ergänzt: „Das kubanische Volk liebt das Kino.“

Die kubanische Filmproduktion nahm nach 1959 einen rapiden Aufschwung. Bereits in den ersten Jahren nach der Revolution begannen Regisseure und Produzenten, das kubanische Leben mit filmischen Mitteln zu analysieren. Für die großen Erfolge des postrevolutionären kubanischen Kinos steht zweifellos der Name ICAIC (Instituto Cubano de Arte e Industria Cinematgráfica), das 1959 gegründete staatliche Filminstitut. Gemeinsam mit ihren Kollegen aus anderen lateinamerikanischen Ländern stellten die jungen FilmemacherInnen in ihrer „Bewegung des Neuen Lateinamerikanischen Films“ nunmehr verstärkt Geschichte, Kultur und spezifische Probleme der kubanischen und lateinamerikanischen Bevölkerung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Es gelang ihnen, spannendes, unterhaltsames, volksnahes und gleichzeitig anspruchsvolles Kino zu machen.

Als Held dieses Kinostils wird heute in Kuba der 1996 an Krebs verstorbene Regisseur Tomás Gutiérrez Alea verehrt. Mit seinen letzten beiden Filmen „Fresa y Chocolate“ (1993) und „Guantanamera“ (1995) gelang ihm auch bei uns ein später Durchbruch.

Die schwere ökonomische Krise zu Beginn der neunziger Jahre – die Zeit der „Sonderperiode“ – forderte ihren Tribut auch im kubanischen Film. Nur zwei, drei Spielfilme konnten im Jahr realisiert werden. „Anders als in den achtziger Jahren“, erklärt der kubanische Regisseur Gerardo Chijona. „Damals wurden zumindest acht Spielfilme pro Jahr gedreht.“ Chijona, der mit seiner Komödie „Un paraíso bajo las estrellas“ („Ein Paradies unter den Sternen“ – der Werbeslogan des Cabaréts „Tropicana“ in Havanna, von dem der Film auch handelt) – dieses Mal Gewinner des Publikumspreises ist, weiß von den schwierigen und langwierigen Realisierungsvorhaben ein Lied zu singen: „Ganze fünf Jahre habe ich gebraucht, bis die Finanzierung meines Projekts gesichert war. Dieser Film war wahrhaftig eine schwere Geburt. Wir Filmemacher hier sind alle auf Koproduktionen angewiesen.“

Festivaldirektor Giroud freut sich über die stetig steigende internationale Aufmerksamkeit für das Filmfestival. „Im Vergleich zum Festival aus dem Jahr 1998 hat die Teilnahme aus Europa, Kanada und den USA um 20 bis 30 % zugenommen!“ Aus Europa waren besonders stark Spanien und Italien vertreten; aus Deutschland wurde eine Fassbinder-Retrospektive gezeigt.

Aus Österreich war in Havanna diesmal kein einziger Film präsent. Ein von Helmut Groschup vom Cinematograph Innsbruck zusammengestellter Überblick über heimisches Filmschaffen war im Jahr zuvor in Havanna zu sehen und wird vielleicht beim Festival im Dezember 2000 eine Fortsetzung finden.

Claudio, ein kubanischer Student und großer Filmliebhaber, betrachtet die Entwicklung des lateinamerikanischen Films sehr skeptisch. Er bemerkt, daß die Qualität der Filmproduktion in den letzten Jahren merklich nachgelassen habe: „Die knappen finanziellen Mittel scheinen den kreativen Geist der Filmschaffenden einzuengen.“ Auch sein Freund Juan Carlos, der vor einem Jahr die Internationale Film- und Fernsehakademie in San Antonio de los Bańos in der Provinz Havanna absolviert hat, vermißt zunehmend Experimentierfreudigkeit im lateinamerikanischen Film: „Immer mehr leichte Komödien, ohne tiefgreifenden Humor, ohne kritische oder ironische Anspielungen auf die gesellschaftliche Realität finden den Weg in die Kinos.“

Kubas Filmschaffende und die Verantwortlichen des ICAIC verneinen jedwede Einflußnahme der ausländischen Koproduktionspartner auf den Inhalt der Filme. Vielleicht traf einer der vor dem Kino Payret auf Einlaß Wartenden das Wesen des Problems, der da meinte, die Mehrheit des Publikums wolle eben unterhaltsame, problemlose Filme sehen: „Der Alltag ist hart genug.“

Für Juan Carlos als jungen kritischen Drehbuchautor liegt ein großes Potential in Videofilmprojekten. Mit geringem finanziellen Aufwand ließen sich kreative Ideen umsetzen: „Darin liegt für uns die Zukunft.“

Die Juryentscheidung für den besten Spielfilm beweist, daß es anspruchsvolles lateinamerikanisches Kino sehr wohl noch gibt und dieses auch honoriert wird: Unter den 37 nominierten Spiel- und 12 Kurzfilmen ging der Preis an „Garaje Olimpo“, einen engagierten und mutigen argentinischen Film, in Koproduktion mit Italien und Frankreich, der von der Militärjunta in Argentinien in den siebziger Jahren und ihren geheimen Folterstätten handelt. Ein von den Kritikern jubelnd aufgenommener Festivalbeitrag, der beim Publikum jedoch auf weniger Interesse stieß. Überhaupt hinterließ inhaltlich der argentinische Film den stärksten Eindruck und konnte auch die meisten Hauptpreise einheimsen.

Befragt man Iván Giroud nach der Zukunft des kubanischen Kinos und seinen Tendenzen, antwortet dieser lakonisch: „Die Tendenzen des kubanischen Films hängen von Zufällen ab.“ Mit den Zufällen meint der Festivalleiter die Unsicherheit, ob ein Filmprojekt nun ausländische Partner für eine Koproduktion findet oder nicht. Für das Jahr 2000 ist die Realisierung von acht kubanischen Filmen gesichert. Eine erfreuliche Zahl angesichts der bitteren letzten Jahre. Fünf weitere Projekte warten noch auf ihre Finanzierung.

Für die Menschen vor dem Kino Payret hat sich das Warten nicht gelohnt – Strom gab es erst wieder am darauffolgenden Tag.

Die Autorin studierte in Innsbruck Politikwissenschaft und Spanisch und ist derzeit am Lateinamerika-Institut in Wien beschäftigt. Längere Aufenthalte in Mexiko und Spanien.

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