Elf Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges ist in Sierra Leone der Alltag noch immer ein täglicher Kampf. Besondere Schwierigkeiten scheinen der Regierung einfache Dinge zu bereiten – der Bau von öffentlichen Toiletten etwa.
Kadiatu Kamara steht im Fluss, der mitten durch Kroo Bay fließt, einen Slum in Sierra Leones Hauptstadt Freetown. In der Regenzeit ist das Wasser über die Ufer getreten. Große Pfützen und schlammige Wege erinnern auch noch Wochen später daran. Im Moment spült der Fluss alles an, was irgendwann einmal ins Wasser geworfen wurde: halb verrottete Ananas, leere Blechdosen, kaputte Flipflops, Kot. Mitten im Wasser stehen ein paar Schweine, die mit ihren Rüsseln untertauchen und nach etwas Essbarem suchen. Ab und zu kotet eines ins Wasser. Alltag in Kroo Bay.
Hier muss Kadiatu Kamara ihre Wäsche waschen. In einer großen Wanne liegen ihre wenigen Besitztümer. Ein paar abgetragene T-Shirts und bunte Tücher, Sandalen und eine Puppe mit strahlend blauen Augen aus Europa. Sie gehört ihren vier Kindern. Neben den eigenen sorgt sie gemeinsam mit ihrer älteren Schwester für drei weitere. Von einem Vater spricht sie nicht. Die 39-Jährige steht gebückt vor der Wanne und versucht, so gut es geht den Dreck aus der Kleidung heraus zu waschen. Um sie herum planschen drei Mädchen im Wasser. Für Waschpulver – und sei es noch so günstig – reicht das Geld nicht. „An guten Tagen verdiene ich 30.000 Leones“, sagt Kadiatu Kamara. Manchmal, wenn sie das Essen, das sie zusammen mit ihrer Schwester kocht und dann am Straßenrand verkauft, nicht los wird, seien es nur 15.000. Dann muss die neunköpfige Familie von gerade einmal 2,60 Euro am Tag leben.
Dabei hat der frühere Finanzminister Samura Kamara, der seit den Wahlen im vergangenen November Außenminister ist, in der Vergangenheit betont: Die Wirtschaft von Sierra Leone gehöre zu jenen, die weltweit am schnellsten wachsen. Für das Jahr 2012 ging er von einer Rate von 50 Prozent aus. Die astronomisch klingenden Zahlen kommen vor allem deshalb zustande, weil von 1991 bis 2002 ein blutiger Bürgerkrieg in dem westafrikanischen Land tobte. Mindestens 70.000 Menschen starben, schätzt das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Einigen Statistiken zufolge hat mindestens jeder zweite Einwohner seinen Heimatort verlassen. Hunderttausende flüchteten in die Nachbarländer Guinea und Liberia. Als der Krieg am 18. Januar 2002 offiziell für beendet erklärt wurde, lag das Land komplett am Boden.
Kadiatu Kamara lebt mit ihrer Familie heute zwar wieder in Sicherheit. Doch die wirtschaftliche Situation hat sich elf Jahre später nicht sonderlich verbessert. In dem westafrikanischen Land, in dem knapp sechs Millionen EinwohnerInnen leben, müssen verschiedenen Schätzungen zufolge 66 bis 70 Prozent der Menschen mit weniger als 1,25 US-Dollar am Tag auskommen. Alleine im vergangenen Jahr lag die Inflationsrate bei knapp zwölf Prozent.
Kadiatu Kamara jammert nicht darüber. „Wir haben nicht viel Geld zum Leben, aber wir kommen damit irgendwie über die Runden“, sagt die schmale Frau, die nun die Plastikpuppe ins Wasser taucht, ruhig. Dann gibt sie aber zu: Sobald eines der Kinder krank ist, wird es knapp. „Ich gehe dann zu der kleinen Krankenstation in unserem Viertel. Manchmal wollen sie 15.000 Leones haben, manchmal sogar 20.000.“ Und die Einnahmen eines ganzen Arbeitstages, von denen neun Menschen leben müssen, sind aufgebraucht. Kadiatu Kamara schaut kurz auf. Ihr Gesicht bleibt regungslos.
Allzu häufig würde das zum Glück nicht vorkommen, sagt die Mutter. Doch in einem Slum wie Kroo Bay, in dem 12.000 Menschen leben, verbreiten sich Krankheiten oft in Windeseile. Neben der mangelhaften Ernährung der Kinder sind es die katastrophalen hygienischen Zustände, die dazu beitragen. Zur nächsten Toilette muss Kadiatu Kamara zehn Minuten gehen. Diese eine Toilette teilt sie sich theoretisch mit 2.000 Menschen. Doch die allermeisten Bewohnerinnen und Bewohner von Kroo Bay nutzen sie nicht einmal. Denn der Besuch des stillen Örtchens kostet 500 Leones (neun Eurocent), nur wenige Menschen können sich das leisten. Noch weniger haben überhaupt eine eigene Toilette daheim. Im ganzen Land, so schätzt Claire Seaward von der Hilfsorganisation Oxfam, sind es gerade einmal 13 Prozent.
Welch dramatische Auswirkungen das hat, erlebte Sierra Leone Mitte des vergangenen Jahres. Die Cholera, in Europa längst ausgerottet, brach aus. Es soll einer der schlimmsten Ausbrüche überhaupt gewesen sein. Zwölf von 13 Distrikten waren betroffen, die angrenzenden Nachbarländer blieben hingegen weitestgehend verschont. Dafür tobte die Epidemie in Sierra Leone umso heftiger. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) starben 280 Menschen. Offiziell hat es 20.736 Cholera-Fälle gegeben. Doch es gilt als wahrscheinlich, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegt. Die ersten Cholera-Fälle verzeichneten die Behörden nicht in Kroo Bay, aber in Marbella, einem anderen der insgesamt 27 Slums von Freetown.
Als die Cholera ausbrach, waren die Politiker schon mitten im Wahlkampf. Am 16. August – drei Monate vor den Präsidentschaftswahlen – musste Amtsinhaber Ernest Bai Koroma den nationalen Notstand ausrufen. Statt groß angelegter Kampagnen zur Wiederwahl entwarf die Regierung gemeinsam mit Hilfsorganisationen Notfallpläne und richtete Ausgabestellen für gechlortes Wasser ein. Hospitäler und ambulante Krankenstationen wurden mit einer speziellen Lösung aus Traubenzucker, Kochsalz und Elektrolyten – der sogenannten ORS (Oral Rehydratation Solution) – ausgestattet. Die Behandlung der Infektionskrankheit, die innerhalb weniger Stunden zum Tod führen kann, war kostenlos. Präsident Ernest Bai Koroma hat der Cholera-Ausbruch nicht geschadet. Schon Monate vor den Wahlen galt er als aussichtsreichster Kandidat, was das Ergebnis vom 17. November bestätigte: Der 59-jährige Spitzenkandidat des Volkskongresses (APC) wurde im ersten Wahlgang mit 58 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Herausforderer Julius Maada Bio von der Partei für die Menschen in Sierra Leone (SLPP) schaffte es nicht einmal in die Stichwahl. Seine AnhängerInnen witterten Wahlbetrug und versuchten, rechtlich gegen das Ergebnis vorzugehen. Doch Ernest Bai Koromo ist längst vereidigt und das neue Parlament hat sich zur Eröffnungssitzung getroffen.
Kadiatu Kamara packt die gewaschene Kleidung zusammen. Sauberer sind T-Shirts und Tücher nicht geworden. Sie steigt aus dem Wasser. Das schlammige Ufer schmatzt bei jeder Bewegung. Ihre Beine sind mit kleinen Schlammspritzern übersät. Mit dem Unterarm wischt sie sich den Schweiß von der Stirn. Um die Mittagszeit brennt die Sonne ganz besonders. Kadiatu Kamara will zu ihren Kindern nach Hause. Die Vier seien für sie das Wichtigste im Leben. Ihnen soll es mal besser gehen, das wünscht sie sich von ihrem Präsidenten: „Ich möchte, dass unsere Kinder eine Schulausbildung bekommen. Außerdem wünsche ich mir, dass die Gesundheitsversorgung besser wird.“ Kadiatu Kamara richtet sich auf und macht ein Hohlkreuz.
Der Cholera-Ausbruch könnte für den zweiten Wunsch sogar hilfreich sein, so zynisch es klingt. „Ich hoffe, dass die Regierung realisiert hat, wie wichtig Sanitäranlagen und gute hygienische Standards sind“, sagt Claire Seaward von Oxfam. Mehr Toiletten und der Zugang zu sauberem Wasser könnten in Vierteln wie Kroo Bay viel dazu beitragen, dass sich Epidemien nicht wieder so rasant ausbreiten.
Bessere Sanitäranlagen hält auch Alhassan Sesay, stellvertretender medizinischer Leiter im Gesundheitsministerium, für dringend notwendig. „Die Menschen müssen schlichtweg Zugang zu Toiletten haben“, erklärt er nüchtern. Doch ausgerechnet für Kroo Bay ist das nicht geplant. Obwohl in Freetown jeder den Slum ganz in der Nähe des Geschäftsviertels kennt, wollen weder Stadtverwaltung noch Gesundheitsministerium investieren. Sie haben eine andere Idee: „Wir müssen die Menschen umsiedeln. Kroo Bay ist schließlich eine Gegend, die besonders anfällig für Infektionen und Epidemien ist“, sagt Sesay und versucht, fürsorglich zu klingen.
Ausreichend Land, um außerhalb des Zentrums ein neues Kroo Bay aufzubauen, würde es geben. „Dort hätten die Bewohner natürlich sauberes Wasser und bessere Sanitäranlagen.“ Doch irgendwo außerhalb von Freetown will niemand wohnen. Die Wege ins Zentrum wären zu weit und viel zu teuer. Frauen wie Kadiatu Kamara hätten kaum noch Möglichkeiten, Essen, Getränke und Kleinigkeiten zu verkaufen. In der Stadtverwaltung wird über die widerspenstigen Bewohnerinnen und Bewohner geklagt, die sich nicht umsiedeln lassen wollen.
Dabei hätte die Regierung schon eine Idee, was aus dem Land werden könnte: Auf dem Filetstück, das dem Staat gehört, könnte eine schicke Flaniermeile entstehen. „Teure Restaurants?“ Alhassan Sesay lacht ein wenig verlegen. So genau wollte er das nicht erklären. Kadiatu Kamara hebt die Wäschewanne hoch. Sie lebt seit langer Zeit in Kroo Bay. Hier hat sie ihr winziges Haus, zu dem sie nun gehen will. Auf dem Weg dorthin fällt ihr noch ein dritter Wunsch an den Präsidenten und seine Regierung ein: „Sie könnten mal nach Kroo Bay kommen. Aber sie kommen ohnehin nicht zu uns.“
Katrin Gänsler ist Korrespondentin mehrerer deutschsprachiger Medien. Sie lebt in Lagos, Nigeria und Cotonou, Benin. Vor kurzem besuchte sie Sierra Leone.
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