Kurz vor der großen Gipfelkonferenz in Rio wird Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff für ihre Umweltpolitik kritisiert. Umweltorganisationen beklagen, dass es unter ihrer Regierung noch größere Rückschritte gibt als unter ihrem Vorgänger Lula. Aus Porto Alegre berichtet Gerhard Dilger.
Brasiliens Umweltgruppen schlagen Alarm. Unter Präsidentin Dilma Rousseff mache die Umweltpolitik „die größten Rückschritte seit dem Ende der Militärdiktatur“ (1964-85), findet Bazileu Margarido, der noch vor einigen Jahren die staatliche Umweltbehörde Ibama geleitet hat. In einem „Offenen Brief an die brasilianische Gesellschaft“ haben die KritikerInnen die größten Umweltsünden von Rousseffs Mitte-Links-Regierung aufgelistet.
Auf dem Spiel stünden viele Errungenschaften der letzten 20 Jahre, beklagen die ÖkoaktivistInnen. Im Umweltministerium und beim Klimawandel herrsche Stillstand, die Umweltauflagen für umstrittene Projekte würden ebenso gelockert wie die Kontrollen durch die Behörden. Der Druck auf kleinbäuerliche und indigene Gemeinschaften werde immer größer.
Die Grundsatzattacke kommt für Rousseff zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Im Juni werden Dutzende Staatsoberhäupter aus aller Welt zum UN-Umweltgipfel Rio+20 am Zuckerhut empfangen – genau 20 Jahre nach dem Erdgipfel über „Umwelt und Entwicklung“ an gleicher Stelle. Seither ist der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ in aller Munde, neben der Agenda 21 wurden die UN-Konventionen über Klima und Artenvielfalt auf den Weg gebracht, durchaus kleine Fortschritte in der globalen Umweltdebatte.
Äußerst fraglich scheint es derzeit, ob sich die RegierungsvertreterInnen auch diesmal auf konkrete Schritte verständigen werden. Der im Jänner vorgelegte „Nullentwurf“ für die Abschlusserklärung strotzt nur so vor Gemeinplätzen über die so genannte „Green Economy“. „Der Text ist von den Vorstellungen des privaten Sektors geprägt, der das heutige Wirtschaftssystem nicht hinterfragt”, kritisiert die brasilianische Soziologin Iara Pietricovsky.
Die Staatschefin wiederum weist darauf hin, dass sich die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik Brasiliens wohltuend vom Neoliberalismus in Europa abhebe. Eine „grüne“ Vorreiterrolle allerdings, die der südamerikanischen Regionalmacht noch vor Jahren zugetraut worden war, ist mittlerweile ziemlich unwahrscheinlich geworden.
Prominenteste Kritikerin der Regierung ist Marina Silva, die erste Umweltministerin von Rousseffs Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva (s. SWM 11/2009). Mitte 2008, nach fünfeinhalb Jahren im Kabinett, hatte sie entnervt das Handtuch geworfen. Rousseff war schon damals ihre große Gegenspielerin innerhalb der Regierung – zunächst als Bergbau- und Energieministerin, dann als Leiterin des Präsidialamts und Lulas rechte Hand.
Der Bau des Megaprojekts Belo Monte am Amazonas-Nebenfluss Xingu ist das wohl berüchtigtste Symbol für die Wirtschafts- und Umweltpolitik Brasiliens. Lula knüpfte an die Pläne der Militärs an, und unter Rousseff begannen im letzten Jahr die Bauarbeiten für das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt, das angeblich für die „Entwicklung“ Brasiliens und speziell Amazoniens erforderlich ist.
Dennoch dürfte in einigen Jahren ein Großteil des hoch subventionierten Stroms privaten Stahl- und Aluminiumwerken zugute kommen, womit die Rolle Amazoniens als Rohstofflieferant für Europa, Nordamerika und Asien fortgeschrieben wird. Gerade diese internationale Dimension, die oft ausgeklammert wird, ist ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis des Megaprojekts: In den letzten Jahrzehnten haben die Länder des Nordens energieintensive und antiökologische Branchen wie die Aluminium-, Stahl- oder Zelluloseproduktion immer mehr in den globalen Süden ausgelagert.
Die europäischen Regierungen sehen vor allem Geschäftsinteressen. Natürlich hätten sie überhaupt nichts gegen Belo Monte einzuwenden, erklärte schon vor Jahren ein Botschafter eines EU-Staats gegenüber dem Autor, „unsere Unternehmen verdienen ja daran mit“. Er hat Recht: Mercedes-Lkws räumen das Erdreich an der Baustelle am Amazonas-Nebenfluss Xingu weg, gerodet wird vorzugsweise mit Stihl-Kettensägen, und die Turbinen, Generatoren oder Transformatoren wird ein Konsortium liefern, an dem Andritz aus Österreich und die Siemens-Tochter Voith-Hydro beteiligt sind.
Nicht nur das internationale Kapital verdient an Belo Monte, sondern auch brasilianische Konzerne wie der Baumulti Andrade Gutierrez oder der Bergbauriese Vale, der sich seit seiner Teilprivatisierung in den 1990er Jahren zum zweitgrößten Rohstoffunternehmen der Welt gemausert hat.
Sie gehören zu den größten Profiteuren des „plündernden Extraktivismus“, dem sich Lateinamerika in den letzten Jahren verschrieben hat. Hauptgrund sind die anhaltend hohen Rohstoffpreise. Einen beträchtlichen Teil der zusätzlichen Devisen stecken die progressiven Regierungen in Sozialprogramme, was ihre Wahlerfolge erklärt, aber zugleich das bergbauorientierte, Ressourcen zerstörende Wachstumsmodell legitimiert.
In Brasilien machten 2011 Eisenerz, Rohöl, Soja, Fleisch, Zucker und Kaffee 47,1 Prozent der Exporte aus – 2006 waren es noch 28,4 %. Neben der angeblich sauberen Wasserkraft bilden die Agrotreibstoffe – Ethanol aus Zuckerrohr und Agrodiesel aus Soja – die zweite Säule von Brasiliens „grünem Kapitalismus“. Auch bei diesen Monokulturen sind die ökologischen und sozialen Kosten extrem hoch.
Entsprechend bergab geht es umweltpolitisch. Als Präsidentschaftskandidatin der Grünen kam Marina Silva vor zwei Jahren auf fast 20 Prozent, doch in den Medien fristen „harte“ Umweltthemen immer noch ein Schattendasein.
„Der größte Fortschritt seit 1992 ist das gestiegene Umweltbewusstsein“, findet Silva, „das war die Basis für mehrere wichtige Umweltgesetze, die in Brasilien seither verabschiedet wurden. Doch seit Rousseffs Amtsantritt 2011 gibt es klare Rückschritte.“ Umweltministerin Izabella Teixeira stärke sogar die Agenda ihrer Gegner, sagt Silva in Bezug auf die drohende Aushöhlung des Waldgesetzes.
Sündenfall Waldgesetz: Dass in den Parlamenten Wirtschaftsinteressen dominieren, ist nicht Neues – Lulas und Rousseffs Arbeiterpartei PT hält nur ein Fünftel der Sitze. Besonders offensichtlich wurde dies bei den Debatten und Abstimmungen über die Aushöhlung des Waldgesetzes seit Mai 2011, bei der die reaktionäre Agrarlobby die Präsidentin regelrecht vor sich her treibt.
Die Ende 2011 vom Senat verabschiedete Novelle sieht Straffreiheit für jene LandbesitzerInnen vor, die bis Juli 2008 die gesetzlich vorgeschriebenen Schutzgebiete zerstört haben. Größere Grundstücke – im Amazonasgebiet fangen diese bei 440 Hektar an – müssten allerdings teilweise wieder aufgeforstet werden. Im Amazonas-Bundesstaat Amapá, der an Französisch-Guayana grenzt, droht die ganz legale Vernichtung von 8.000 km2 (800.000 Hektar) Primärwald: Weil über 65% der Staatsfläche aus Parks und Indianergebieten bestehen, sollen auf Privatarealen nur noch 50% geschützt werden, im übrigen Amazonien sind es 80%.
Der Raubbau würde im ganzen Land zunehmen: So sollen Schutzgebiete an Flussufern zum Teil erheblich verkleinert und die landwirtschaftliche Nutzung an Berghängen und Kuppen ausgeweitet werden. Schon jetzt kommt es bei heftigen Regenfällen in dicht besiedelten Gebieten regelmäßig zu großen Erdrutschen, die zahlreiche Todesopfer fordern.
Die Agrarlobby drängt für die entscheidende Abstimmung im Abgeordnetenhaus auf einen baldigen Termin, während die Regierung lange versuchte, sie bis nach Rio+20 hinauszuzögern. Bei Redaktionsschluss zeichnet sich jedoch ein Termin in der letzten Aprilwoche ab, mit weiteren Zugeständnissen der Regierung.
Rousseff hätte die Möglichkeit, gegen die skandalösesten Passagen ihr Veto einzulegen, doch außer der vagen Andeutung, es werde schon nicht zum „Traumgesetz der Agrarier“ kommen, schweigt sie. Und bei der Senatsabstimmung im Dezember führte ausgerechnet ihr Parteifreund Jorge Viana Regie, ein früherer Mitstreiter von Marina Silva und dem Regenwald-Märtyrer Chico Mendes.
Währenddessen beschleunigt sich die Waldvernichtung, die unter Silva deutlich zurückgegangen war, wieder: Von Jänner bis März habe sie sich im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht, erklärte das Nationale Institut für Raumforschung vor kurzem – die Debatte um das Waldgesetz und die Verheißung einer umfangreichen Amnestie mache die Rodungen besonders attraktiv, räumt selbst Umweltministerin Teixeira ein.
„Diese Regierung ist die erste, die nicht nur keine neuen Naturschutzgebiete ausweist, sondern sie sogar verkleinert“, sagt Raul Silva Telles do Valle vom Sozialökologischen Institut in São Paulo. So ließ Rousseff zu Jahresbeginn per Dekret 86.000 Hektar aus sieben Naturparks im Amazonasgebiet herausnehmen, um so den Weg für den Bau von vier weiteren Staudämmen freizumachen.
Die Zivilgesellschaft organisiert sich: Das „thematische“ Weltsozialforum, das im Jänner 2012 im südbrasilianischen Porto Alegre stattfand, war ganz der Vorbereitung auf Rio+20 gewidmet. Die interessantesten Diskussionen fanden in den thematischen Arbeitsgruppen statt, die Anfang Juni als Gegenkonzept zum offiziösen Gipfel präsentiert werden sollen.
Die GlobaliserungskritikerInnen tagen vor und parallel zu dem Regierungstreffen auf einem „Gipfel der Völker“. Dort soll es um Kritik an strukturellen Krisenursachen und „falschen Lösungsansätzen“ gehen, die Präsentation alternativer Lösungsansätze sowie die Koordinierung weiterer Kampagnen. Am 23. Juni will man auf die Ergebnisse der UN-Konferenz antworten.
Im Rahmen des „grünen Kapitalismus“ strebten die Agrar- und Pharmamultis die totale Kontrolle über die Artenvielfalt an, warnte in Porto Alegre der kanadische Gentech- und Geoengineering-Kritiker Pat Mooney vom alternativen Forschungszentrum ETC Group. Wie schon in Rio 1992 gehe es auch diesmal um „Besitz und Kontrolle der natürlichen Ressourcen“, meinte er. Damals hätten sich die „Kolonialmächte“ durchgesetzt, „die Biodiversität Lateinamerikas lagert im Botanischen Garten von Berlin und anderen Genbanken des Nordens“.
„Unsere Botschaft in Rio muss lauten: Ihr könnt die Natur nicht besitzen“, rief er. Die Ermahnungen an die Basis, sie solle sich „konstruktiv“ zeigen, tat er als „Bullshit“ ab: „1992 waren wir positiv, und was ist dabei herausgekommen? Wir haben einen Haufen schöne Worte, die Konzerne haben einen Haufen Geld.“
Dennoch schloss er mit einer überraschend optimistischen Perspektive: „Weltweit werden immer noch 70% der Lebensmittel von Kleinbauern produziert, und jeweils 70% des Wissens über Artenvielfalt und medizinische Heilmittel befinden sich im Besitz indigener Völker.“ Die sozialen Bewegungen müssten aber noch enger zusammenarbeiten, um den Zugriff der Konzerne abzuwehren.
„Wir müssen eine neue Begrifflichkeit für die Welt entwickeln, die wir wollen“, sagte Silke Helfrich, deutsche Expertin für Gemeingüter. So kristallisieren sich ganz langsam die „Commons“ als neue Richtlinie heraus. Der alte Gegensatz zwischen Markt und Staat, so Helfrich, sei nur noch sehr bedingt tauglich, um Auswege aus der Krise aufzuzeigen, denn Rechte wie Linke hingen gleichermaßen dem Fortschritts- und Wettbewerbsdenken an.
Dies sei aber ein Entwicklungskonzept, das die Zerstörung der Erde zur Folge habe, „Commons“ oder das andine Konzept vom „Guten Leben“ gingen jedoch beide in dieselbe andere Richtung. Aber kluge Papiere allein werden nicht reichen. Die Aktivistin Mercia Andrews aus Südafrika warnt: „Wenn wir nicht die Menschen auf die Straße bringen und einig auftreten, haben wir in Rio keine Chance.“
Gerhard Dilger lebt und arbeitet seit 1999 als Korrespondent deutschsprachiger Medien in Brasilien.
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