Das 20jährige Jubiläum, das die Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) im Januar 2004 feierte, wurde von vielen zum Anlass für eine Rückschau genommen – wenngleich mit höchst unterschiedlichen Bewertungen. Während ihre Sympathisanten – LandarbeiterInnen, Gewerkschaften, eher links gerichtete Parteien und engagierte NGOs – die unbestreitbaren Errungenschaften der Bewegung im Kampf um Land für Landlose priesen, verwiesen die Kritiker der Bewegung – Großgrundbesitzer, politisch repräsentiert durch die UDR – die Partei der traditionellen Landoligarchien –, die eher liberalen und konservativen Parteien und nicht zuletzt Geschäftsleute und Politiker– auf die Gefahren, die die MST für Demokratie und Rechtsstaat darstelle. Sie fürchten, dass die radikalen Aktionen dieser Bewegung dem Investitionsplatz Brasilien schaden.
Knapp 10% der Grundbesitzer verfügen über 80% des Landes, die restlichen 90% teilen sich die verbleibenden 20% der nutzbaren Flächen. Rund 4,5 Millionen Bauernfamilien in Brasilien haben kein eigenes Land, ca. 200.000 besetzen gerade eine Farm, davon etwa die Hälfte bei der MST, die andere Hälfte verteilt sich auf ein Dutzend kleinerer Organisationen. Nach eigenen Angaben1 ist die MST in 23 von 26 Bundesstaaten aktiv und betreut 1,5 Millionen Landlose. 350.000 Familien haben durch Landbesetzungen der MST ein Stück Land bekommen.
Die Aktivitäten der MST enden nicht mit der Zuteilung des Landtitels: Sie umfassen auch Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Unterstützung bei landwirtschaftlicher Produktion und Vermarktung. Das größte Verdienst der Bewegung, die auch Kooperationen mit der UNESCO und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit unterhält, liegt jedoch weniger in den materiellen Verbesserungen, die die begünstigten Familien erhalten haben, sondern besteht darin, mit ihren spektakulären Aktionen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Probleme der Landlosen gelenkt zu haben. Die extreme Landkonzentration wie im Fall von Brasilien ist nicht nur ein soziales Problem, sondern nach einhelliger Expertenmeinung ein großes Hindernis für nachhaltige Entwicklung.
Entstanden ist die MST in den vorrangig von deutschsprachigen Einwanderern besiedelten südlichsten Bundesstaaten: Nach Landbesetzungen in Rio Grande do Sul 1979, Santa Catarina 1980 und, im gleichen Jahr, in Paraná, wuchs die Überzeugung bei den einzelnen Initiativen, dass es einer stärkeren Organisation und Vernetzung für den Kampf um Land bedurfte. Im Januar 1984 schlossen sich diese Landlosen-Gruppen in Cascavel/ Paraná zu einer nationalen Bewegung zusammen, die jedoch nie formal gegründet wurde und bis heute keine Rechtspersönlichkeit besitzt – was sich, wenn man auf die Aktionen der vergangenen 21 Jahre zurück blickt, als klug erwiesen hat: Denn gäbe es einen Präsidenten oder eine Präsidentin, eine institutionell nachvollziehbare Verantwortung von Einzelpersonen für die erfolgten Landbesetzungen, Straßenblockaden oder Besetzungen von Institutionen – die gesamte Führungsriege der Bewegung wäre schon in den ersten Monaten inhaftiert und dauerhaft weggesperrt worden.
Dabei ist die Enteignung von unproduktivem Großbesitz und seine Umverteilung an Landlose, wie es die MST fordert, in der Verfassung von 1988 (Art. 184) verankert. Da aber die Großgrundbesitzer, die mit den traditionellen politischen Eliten Brasiliens nahezu identisch sind, stets mehr Einfluss und vor allem mehr Geld für die politische Lobbyarbeit besaßen, war der Rechtsweg für die Landlosen in der Regel ausgeschlossen. Daher musste die MST in dem Bemühen, geltendes Gesetz auch für die Schwachen durchzusetzen, stets auf Methoden zurückgreifen, die sich am Rande und zuweilen auch jenseits des bürgerlichen Rechts befanden – oder zumindest leicht als ungesetzlich darstellbar waren: als Eigentumsdelikte, Hausfriedensbruch oder Nötigung.
Als im März 2002 rund 500 MST-Mitglieder eine Fazenda einschließlich der Wohnräume der Familie des damaligen Präsidenten F. H. Cardoso besetzten, wurde der Fall von den Medien zu einem Akt der Barbarei hochstilisiert. Der Vorfall, bei dem die Bewegung auch nach Ansicht von Fürsprechern den Bogen überspannt hatte, ist aber eine der wenigen unrühmlichen Ausnahmen in der Geschichte der MST.
Die Verhältnismäßigkeiten, um die es bei diesen Konflikten geht, dürfen nicht aus den Augen verloren werden: Das brach liegende Land, das im Besitz der Latifundisten ein Spekulationsobjekt ist, stellt für Millionen Menschen in Brasilien eine reale Chance dar, dem Leben als TagelöhnerInnen oder städtische Obdachlose zu entfliehen und sich ihren Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten. Es ist die Aussicht auf ein menschenwürdiges Dasein, das die Landlosen dazu bringt, unter Zeltplanen und ohne Infrastruktur auf die Zuteilung einer Parzelle zu warten. Und es ist Habgier, die die Großgrundbesitzer dazu bringt, „Pistoleiros“, bezahlte Banden, anzuheuern, um die Landbesetzer zu vertreiben. Doch auch die offiziellen Sicherheitskräfte waren in der Vergangenheit wenig zimperlich, wenn es darum ging, „illegale Eindringlinge“ zu vertreiben. Bei dem bis dato Aufsehen erregendsten Vorfall tötete die Militärpolizei 1996 in Eldorado de Carajás bei der gewaltsamen Räumung einer Straßenblockade der MST 19 LandarbeiterInnen und verletzte Dutzende weitere. Die Zahl der in Landkonflikten Getöteten geht in die Tausende, und dabei werden viele Tötungen nicht einmal registriert oder gar gerichtlich verfolgt.
In Luiz Inácio da Silva, den aus der Gewerkschaftsbewegung stammenden Präsidenten der Arbeiterpartei, der seit Januar 2003 im Amt ist, hatte auch die MST große Hoffnungen gesetzt. Sie erwartete eine Beschleunigung der Agrarreform. Erste Planungen, die noch im Wahlkampf erstellt wurden, sahen die Ansiedlung von einer Million Familien in der vierjährigen Amtszeit vor. Der bei Regierungsantritt präsentierte Plan war bereits auf etwa die Hälfte reduziert, und dessen konkrete Umsetzung geht nur schleppend voran. Der Etat für Agrarreform wird ständig gekürzt, weil die Bedienung des drückenden Schuldendienstes Vorrang hat. Selbst ein Dekret des Vorgängers F.H. Cardoso, das sowohl Landbesetzer wie auch das besetzte Land von der Agrarreform ausschließt, hat Lula noch nicht zurück genommen: eine weitere Belastung für das Verhältnis zur MST. Wie die Vorgängerregierung setzt auch die Koalition um die Arbeiterpartei von Lula auf die Abkehr von der Agrarreform nach dem Schema Landbesetzung – Enteignung – Umverteilung im Stile der MST zugunsten einer eher marktorientierten Formel, nach der den landlosen Kleinbauernfamilien mit speziellen Kreditlinien der Ankauf von Land erleichtert werden soll. Diese auch von der Weltbank unterstützte Strategie ist sicherlich geeignet, die Agrarreform gewaltfreier zu machen. Allerdings ist nach Ansicht von ExpertInnen fraglich, ob die Kleinbauernfamilien in der Lage sein werden, die langfristigen Kredite zu bedienen und gleichzeitig ihre Lebenssituation zu verbessern. Eine substanzielle Verbesserung der extremen Landkonzentration ist jedoch auf diesem Wege unwahrscheinlich.2 Daher wird die Arbeit der MST auf absehbare Zeit nicht an Bedeutung verlieren.
1)
www.mst.org.br/historico/historia1.html2) Vgl. hierzu „Agrarreform und Armutsbekämpfung in Brasilien“ von Ingo Melchers,
E+Z 11/2002,
www.inwent.org/E+Z/1997-2002/ez1102-9.htm