Sexualisierte Gewalt ist ein globales Phänomen und nicht auf bestimmte Gesellschaften oder Kulturen beschränkt. Sie ist eine Demonstration von Macht und Unterdrückung. Welche mutigen Gegenreaktionen und Formen erfolgreichen Widerstands es gibt, dazu hat Brigitte Pilz recherchiert.
Das Aufbegehren gegen sexualisierte Gewalt ist nicht neu. Doch seit einigen Jahren ist es lauter geworden, hörbarer auf der ganzen Welt. Der Aufschrei kam aus Indien, wo Ende 2012 eine junge Frau von mehreren Männern besonders grausam vergewaltigt wurde und daran starb. Landesweite Demonstrationen wütender Menschen folgten. Nicht nur diese Vergewaltigung, sondern die alltägliche sexualisierte Gewalt gegen Frauen wurde angeprangert und wirksame Gegenmaßnahmen wurden gefordert.
Indien wird von der UNO nach Afghanistan als zweitgefährlichstes Land für Frauen eingestuft. Die Angriffe sind vielfältig: Weibliche Föten werden massenhaft abgetrieben, Mädchen zwangsverheiratet, Ehefrauen wegen zu gering erachteter Mitgift ermordet, Frauen werden sexuell gequält und erniedrigt. Vergewaltigung ist ein Massenphänomen.
Indien ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass entsprechende Gesetze nicht genügen. Es ist verboten, das Geschlecht eines Kindes vor seiner Geburt zu bestimmen. Mitgiftzahlungen sind gesetzlich untersagt, ebenso Kinderheirat. Häusliche Gewalt steht unter Strafe, ebenso sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.
Nachlässiges Agieren. Human Rights Watch (HRW) berichtet jedoch in einer Studie Ende 2017, dass die Opfer sexueller Gewalt stigmatisiert und vom System alleingelassen werden. Polizei, Gerichte und viele Gesundheitsbehörden agieren nachlässig. In Indien engagieren sich zahlreiche Personen für eine gerechtere Gesellschaft in Hilfs-, Menschenrechts- und Frauenorganisationen. Frauentaxis und Frauenabteile in Zügen wurden eingerichtet, es gibt mehr Polizistinnen als früher – alles viel zu wenig, um die Bedrohungen für die weibliche Bevölkerung maßgeblich zu reduzieren.
Sexualisierte Gewalt
Drei Begriffe von Gewalt werden in diesem Zusammenhang am häufigsten benutzt:
Sexuelle Gewalt: Verleitet dazu, die psychisch-emotionale Komponente und deren Folgen auszublenden.
Sexueller Missbrauch: Könnte implizieren, dass es einen tolerierbaren Gebrauch gäbe.
Sexualisierte Gewalt: Wird in der Fachwelt am meisten verwendet. Dieser Begriff umfasst alle sexuellen Handlungen, die einem Kind, einer Frau, einem Mann oder einer Trans-Gender-Person aufgezwungen werden. Dies können verbale Belästigung wie Witze und Anzüglichkeiten sein, unerwünschte Berührungen und Bedrängungen bis zum Erzwingen von Geschlechtsverkehr oder anderer sexueller Handlungen. Sexualisierte Gewalt ist ein Akt der Aggression und des Machtmissbrauchs, nicht das Resultat unkontrollierbarer sexueller Triebe. Die Verantwortung liegt niemals beim Opfer. (Quelle: BMFUJ)
Warum ist das so? „Was ist los mit dem indischen Mann?“, fragte der Journalist Jan Roß im Juni 2014 in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit. Und er zitiert die indische Menschenrechtsanwältin Vrinda Grover: „Solange die Ungleichheit in unserer Gesellschaft als normal gilt, wird die Gewalt nicht nachlassen. Der untergeordnete Status von Frauen wird bei uns kulturell nicht nur gebilligt, er ist erwünscht.“ Gleichbehandlung in der Erziehung von Buben und Mädchen ist die Ausnahme.
Vrinda Grover ist trotzdem nicht ohne Hoffnung. Veränderungen werden durch die klare Entschlossenheit der Frauen herbeigeführt, Vergehen öffentlich zu machen und nicht aus Angst vor der „Schande“ zu schweigen.
Indien ist nur ein Beispiel. Überall auf der Welt ist sexualisierte Gewalt präsent, in unterschiedlichen Ausprägungen.
Besonders perfide. In fast allen größeren bewaffneten Konflikten wurde und wird sexuelle Gewalt als Waffe eingesetzt – vom ehemaligen Jugoslawien bis zum Kongo, vom Irak bis Guatemala. Massenhafte Vergewaltigungen von Frauen und auch Männern sind ein besonders perfides Kriegsmittel. Gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Folgen treffen nicht nur Individuen, sondern sie destabilisieren ganze Gemeinschaften. Erst im Jahr 2008 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1820, in der sexuelle Gewalt als Mittel der Kriegsführung ausdrücklich als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wird.
Um die Öffentlichkeit stärker darauf aufmerksam zu machen, wurde der 19. Juni zum Internationalen Tag zur Beseitigung von sexueller Gewalt in Konflikten erklärt.
Im Mai 2016 wurde der ehemalige Präsident des Tschad, Hissène Habré, wegen Kriegsverbrechen, einschließlich Vergewaltigung und sexueller Sklaverei, schuldig gesprochen. Dies war das erste Mal, dass ein früherer Staatschef persönlich für die Begehung von Vergewaltigung als internationales Verbrechen schuldig gesprochen wurde.
Traditionelle Unkultur. Verharmlosend werden bestimmte Formen sexualisierter Gewalt als „traditionelle kulturelle Praktiken“ bezeichnet. Das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF schätzt, dass mehr als 200 Millionen Frauen weltweit von Genitalverstümmelung betroffen sind. Sie ist in Subsahara-Afrika, im Nahen Osten und in Südostasien nach wie vor weit verbreitet. Korrekterweise muss sie als „harmful traditional practice“ („schädlicher traditioneller Brauch“) bezeichnet werden, ebenso wie Frühehen, Zwangsheirat, Ehrenmorde, Brautraub, Säureangriffe oder Jungfräulichkeitstests.
Für die Betroffenen haben diese Formen von Misshandlungen oft lebenslange physische und psychische Verletzungen zur Folge. Sie sind nichts anderes als Ausdruck massiver patriarchaler Gewalt.
Patriarchale Machtstrukturen. Gewalt gegen Frauen ist keineswegs ein Kennzeichen „unterentwickelter“ oder „armer“ Gesellschaften. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO erleiden in allen Regionen dieser Welt Frauen körperliche und/oder sexualisierte Gewalt, allein weil sie Frauen sind. Exakte Zahlen über das Ausmaß von solcher Gewalt gibt es kaum, weil die Scham, darüber zu sprechen, sehr groß ist. Kriminalstatistiken, Umfragen und Tätigkeitsberichte von Beratungsstellen ermöglichen Schätzungen. Tatsache ist, dass Frauen, aber auch Männer Gewalt sowohl im privaten Bereich, als auch im beruflichen Umfeld und in der Öffentlichkeit erleben.
Gezielt angeprangert haben diesen Missstand Feministinnen seit den 1960er Jahren. Sie haben aufgezeigt, dass Frauen vielfältigste Formen sexualisierter Gewalt erleiden müssen. Bald erweiterte sich die Diskussion dahingehend, dass Opfer nicht allein Frauen sind, sondern auch Männer oder Trans-Gender-Personen. Stets ist bei den einschlägigen Vergehen eine enge Verknüpfung mit „patriarchalen Machtverhältnissen“ festzustellen.
Die in Wien tätige Kultur- und Sozialanthropologin Patricia Zuckerhut subsumiert darunter „sämtliche Übergriffe, die auf die Verletzung des Intimbereichs und damit einhergehend des Schamgefühls eines Menschen abzielen“ (iz3w 363, Seite 20). Das können Blicke, Worte, Berührungen bis hin zu Vergewaltigung und Mord sein. „Charakteristisch ist in jedem Fall eine geschlechtlich-sexuell konnotierte Ungleichheit zwischen den Beteiligten, beziehungsweise das Bestreben, eine solche herzustellen.“
Bis heute wird die klare Opfer-Täter-Zuschreibung nicht von allen verfochten und sexualisierte Gewalt mitunter als triebgesteuertes und „natürliches“ Verhalten betrachtet, „Vergewaltigung als das Ergebnis nicht kontrollierter sexueller männlicher Instinkte“ (Zuckerhut). Da ist es naheliegend, dass Frauen bei Übergriffen als Mitschuldige betrachtet werden. Sie seien aufreizend gekleidet gewesen, hätten sich in der Nacht „herumgetrieben“ etc.
Solche Äußerungen hat man nicht nur von Politikern aus Indien gelesen, sondern auch aus Deutschland nach den Übergriffen ganzer Gruppen von Männern auf Frauen zu Silvester 2016 in Bangalore und 2015 in Köln.
Geschlechtsspezifische Tötung. Marcela Lagarde y de los Ríos, mexikanische Feministin, Anthropologin und Politikerin, hat einen Begriff geprägt, der die brutalste Form sexualisierter Gewalt gegen Frauen bezeichnet: Feminicidios, auf Deutsch Feminizide. Auf Spanisch bedeutet „femicidio“ Frauenmord, analog zu „homicidio“, Mord. Die Wortschöpfung „feminicidio“ hat die spezielle feministische Konnotation und verweist auf eine geschlechtsspezifische Tötung: Sie werden umgebracht, weil sie Frauen sind. Bereits in den 1990er Jahren erlangte die nordmexikanische Stadt Ciudad Juárez traurige Berühmtheit durch mehr als 700 Frauenmorde, die zum Großteil unaufgeklärt geblieben sind. Von weltweit 25 Ländern mit dem höchsten Anteil an Tötungen von Frauen liegen laut einer Studie von 2012 der Schweizer NGO Small Arms Survey 14 in Lateinamerika. Die Gründe, so WissenschaftlerInnen unisono, liegen v.a. in der ausgeprägten Macho-Kultur mit ihrer Missachtung und Unterdrückung von Frauen. In einigen Ländern wie Mexiko oder Kolumbien bergen auch Drogenbanden für die weibliche Bevölkerung ein hohes Risikopotenzial.
Was von MenschenrechtsaktivistInnen besonders angeprangert wird, ist die Untätigkeit der Polizei und anderer staatlicher Behörden. Ob die Morde von Ehemännern, Vätern oder professionellen Kriminellen begangen werden, „feminicidios sind“, sagt Lagarde y de los Ríos, „Verbrechen des Staates“.
Seit zwei Jahren wird der Widerstand in vielen Ländern des Kontinents lauter. Die Kampagne „ni una más“ („nicht eine mehr“), auch „ni una menos“ („nicht eine weniger“) genannt, ist nicht nur in den sozialen Medien extrem erfolgreich, lautstark wird auf Demonstrationen Gerechtigkeit für Frauen gefordert, die Verschärfung von Gesetzen und eine wirksame Strafverfolgung von Tätern.
Modernisierungsverlierer. Neben den patriarchalen Machtverhältnissen wird von der Forschung eine weitere Ursache sexualisierter Gewalt betont. In verschiedenen Ländern und Kulturen sind Täter oft die Modernisierungsverlierer. Radikaler Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft kann Abwertungserfahrungen bei Männern zur Folge haben, aber auch sexuelle Aggression steigern. Sexualisierte Gewalt bleibt ihnen als eine Möglichkeit, Macht zu demonstrieren, anstatt ihre Ängste zu spüren.
Der deutsche Journalist Daniel-Dylan Böhmer appelliert in der Tageszeitung WELT vom 7. 1. 2017 an die Frauen, solche marode Männlichkeit – à la Donald Trump und Co. – nicht auch noch anzuhimmeln: „Rettet uns Männer vor diesen Antihelden. Alleine schaffen wir es nicht mehr.“
Brigitte Pilz ist freie Journalistin in Wien und Herausgebervertreterin des Südwind-Magazins.
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