Álvaro García Linera
Sachbuch. Übersetzt von Barbara Gelautz und Brigitte Schatzl. Rotpunktverlag, Zürich 2012, 260 Seiten, EUR 28,00
Allein das Vorwort von Jean Ziegler und die Aktualisierungen und Konkretisierungen der Texte durch ein einleitendes Interview mit dem Autor, dem bolivianischen Vizepräsidenten, sowie die Einleitung durch Stephan Rust machen das Buch in höchstem Maße lesenswert. Darüber hinaus haben die übersetzten Texte aus dem Sammelband „La potencia plebeya“ (von 2008) aus heutiger Sicht beinahe schon historischen Charakter. Insofern verspricht der Untertitel zuviel. Und auch wieder nicht, denn es geht hier um das politische Denken hinter dem Umgestaltungsprozess: Vor allem die theoretische Neubewertung des bäuerlich-indigenen Potenzials aus marxistischer Sicht, und – en passant – um die Rolle der Kultur in den Prozessen der sozialen Mobilisierung – Resultat seiner „archäologischen Lektüre“ der Marx’schen Texte. Diese förderte so überraschende Fundstücke zu Tage wie eine philosophische Entsprechung des indigenen „buen vivir“, wo Marx in den „Pariser Manuskripten“ von 1844 die Natur als „unorganischen Leib des Menschen“ beschreibt, mit dem ein Stoffwechsel (über)lebensnotwendig ist. Über weite Strecken also ein theoretisches Buch des Soziologen Álvaro García Linera. Das Problem: In der tagespolitischen Praxis gibt es das Indigene und das Bäuerliche so idealtypisch nicht, sondern in einem vielfältigen Potpourri, wie zuletzt der Tipnis-Konflikt deutlich gemacht hat.
Genau darin liegt die Transzendenz des bolivianischen Experiments und der Schriften von Álvaro García. Wie revolutionär kann der Indianismus sein, nachdem der Marxismus in Bolivien an seine Grenzen gestoßen war? Im Interview formuliert der Autor diesen Anspruch heute bescheidener: „Ich weiß nicht, wie sehr Bolivien auch Modell für andere Staaten sein könnte.“
Das ganze Buch ist im Grunde ein Plädoyer für undogmatische politische Praxis: „…Es gibt keine Rezepte. Wenn wir hier bei uns in Bolivien Rezepte gesucht hätten, dann hätten wir uns eingereiht in die bequeme Schlange und gewartet, bis der Sozialismus ausgerufen wird. Wir würden heute noch da stehen.“ Che Guevara sagte das mit folgenden Worten: „Die Pflicht des Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen.“
Robert Lessmann
(Siehe Bolivien-Artikel auf S.20/21.)
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