Vier Tage, vier Nächte

Von Redaktion · · 2017/10

Doaa al-Zamel überlebte tagelang auf offener See. Sie erzählte Milena Österreicher von ihrer Flucht und ihrem neuen Leben in Schweden.

Endlich schaffen es Doaa al-Zamel und ihr Verlobter auf ein altes Fischerboot, das sie und hunderte andere Menschen von der ägyptischen Küste nach Europa bringen soll. Die 19-jährige Syrerin hat furchtbare Angst vor Wasser. Als sie sechs Jahre alt war, warf ein Cousin die Nichtschwimmerin in einen See. „Ich schwor mir damals, nie wieder in die Nähe von Wasser zu gehen“, erzählt die 22-jährige Doaa al-Zamel heute.

Doaa al-Zamel wächst in Dara’a im Südwesten Syriens auf. Wenn sie nicht gerade in die Schule geht, hilft sie ihrem Vater in seinem Friseurladen. Im Gegensatz zu ihren vier Schwestern denkt das Mädchen nicht ans Heiraten. Sie möchte Geld verdienen, ihre Familie unterstützen. Ihr Berufswunsch: Polizistin. „Ich wollte anderen Menschen helfen, die in Not geraten.“

Im Arabischen Frühling. Anfang 2011 bröckeln die ersten autoritären Regime in der arabischen Welt. Auch in Damaskus demonstrieren Menschen für demokratische Reformen. In Doaa al-Zamels Heimatstadt Dara’a sprühen Jugendliche regimekritische Sprüche auf die Wände ihrer Schule. Sie werden festgenommen, ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Daraufhin füllen sich die Straßen Dara’as mit Protestzügen für die Freilassung der Jungen.

Die 16-jährige Doaa lässt sich bald von der Stimmung anstecken und marschiert mit. Sie trägt Revolutionsflaggen, malt Sprüche auf Kartons, bastelt nachts Perlen-Armbänder in den Revolutionsfarben rot, grün und schwarz. Doch die Gewalt und die Repression, mit der Machthaber Baschar al-Assad auf die Proteste reagiert, werden immer schlimmer. Die Familie flieht nach Ägypten: „Wir dachten, wir könnten nach zwei, drei Monaten wieder zurückkehren.“

Dort lernt Doaa al-Zamel den ebenfalls geflüchteten Syrer Bassem kennen, und lieben. Sie planen eine gemeinsame Zukunft. Doch die anfängliche Willkommensstimmung gegenüber geflüchteten SyrerInnen schlägt bald um. Sie werden auf der Straße beschimpft, Frauen zunehmend belästigt.

Doaa und Bassem beschließen, die Überfahrt mit Schleppern nach Europa zu wagen. Zwei Mal scheitert der Versuch an Bord zu gehen. Das junge Paar wird von der Polizei am Strand geschnappt. Erst beim dritten Mal, am 6. September 2015, klappt es.

Tödliche Überfahrt. Das Boot ist bereits mehrere Tage unterwegs, als ein anderes Schiff es auf offener See rammt. Das Boot kentert. Bassem kann für seine Verlobte einen Schwimmreifen ergattern. „Ich weiß nicht, wie ich das Unglück damals überstanden habe. Wahrscheinlich hat Gott mir die Kraft gegeben.“

Doaa al-Zamel erzählt ruhig und gefasst von den Schreckensstunden, die folgen sollen: Vom Wasser, das sich langsam rot zu färben beginnt, vom Blut der Menschen, die die Schiffsschraube erfasst hat. Von den Leichen, die um sie herumtreiben.

Untertags brennt die Sonne herunter, in der Nacht ist es eiskalt. Einige sind zu erschöpft, um sich weiterhin über Wasser zu halten. Manche ziehen ihre Rettungswesten aus und lassen sich aus Verzweiflung in die Tiefen des Meeres sinken. Es sterben immer mehr.

Zwei Menschen kommen zu ihr herangeschwommen. Sie merken, dass sie es nicht mehr lange schaffen und vertrauen Doaa al-Zamel ihre zwei kleinen Kinder an, bevor sie kurz darauf untergehen. Die junge Syrerin hält sich mit den beiden Mädchen im Schwimmreifen über Wasser.

Doch auch Bassem verlassen allmählich die Kräfte. Sie muss schließlich zusehen, wie ihr Verlobter neben ihr ertrinkt. „Ohne die zwei kleinen Mädchen wäre ich ihm am liebsten in die Tiefe nachgefolgt.“

Vier Tage und vier Nächte übersteht Doaa al-Zamel. Erst am vierten Tag werden die drei und acht andere Überlebende von einem Frachtschiff entdeckt, gerettet und dann in ein Krankenhaus nach Kreta gebracht.

Das Schiffsunglück mit an die 500 Toten ist in den Medien Thema. So wird auch UNHCR-Pressesprecherin Melissa Fleming auf Doaa al-Zamel aufmerksam. Sie besucht sie in Griechenland und schreibt ein Buch über ihre Lebensgeschichte. Eine Geschichte, die von den grausamen Folgen des bereits sechs Jahre andauernden Kriegs in Syrien handelt. Aber auch eine Geschichte, die von Stärke und Hoffnung erzählt.

Neues Leben. Im Jänner 2016 bekommt Doaa al-Zamel Asyl in Schweden, trifft dort Familienangehörige und zieht in ein kleines Dorf. „Es leben fast nur alte Menschen dort“, erzählt sie grinsend, „aber sie sind sehr nett und freundlich.“ Die junge Syrerin lernt täglich Schwedisch, „eine schöne Sprache, aber ein bisschen schwierig“. Die 22-Jährige möchte Jus studieren und als Rechtsanwältin für Gerechtigkeit kämpfen. „Und ich lerne gerade schwimmen. Denn man muss sich seinen Ängsten stellen.“

Milena Österreicher ist freie Journalistin und lebt in Wien. Aktualisierung in dieser Online-Ausgabe: Das Gespräch kam mit Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zustande. Melissa Fleming, UNHCR-Sprecherin, hielt Doaa al-Zamels Geschichte im Buch "Doaa – Meine Hoffnung trug mich über das Meer" (Knaur Verlag, 2017, 20 €) fest.

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