Verfassung auf Bestellung

Von Matin Baraki · · 2004/03

Washington, die UNO und die EU mischten kräftig mit bei der Verabschiedung der neuen Verfassung Afghanistans. Diese schreibt das Land als eine „Islamische Republik“ fest, wodurch auch die „Scharia“, das islamische Recht, weiter Anwendung finden kann.

Vor gut zwei Jahren wurde auf der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn vereinbart, dass für Afghanistan bis Ende 2003 eine neue Verfassung verabschiedet werden soll. Nach einjährigen Verhandlungen in der auf dem Petersberg vereinbarten 36-köpfigen Kommission wurde am 3. November 2003 mit 64 Tagen Verspätung der aus zwölf Kapiteln und 182 Artikeln bestehende Verfassungsentwurf vorgelegt, der Interimspräsident Hamid Karzai auf den Leib geschneidert ist. Karzai wird demnach umfassendere Machtbefugnisse haben als Wladimir Putin und George W. Bush zusammen. Afghanistan soll ganz nach US-Muster ein Präsidialsystem bekommen. Schon beim Entwurf wurde zwischen Islamisten und säkular orientierten Kräften erbittert um die Machtverteilung in der künftigen Regierung und um die Stellung des Islam in der Verfassung gerungen.
Für die Verfassungsversammlung, die Loya Djirga, wurden 452 Delegierte, unter ihnen 90 Frauen, gewählt, 50 weitere wurden von Karzai ernannt, darunter der Islamist Sebgatullah Modjadedi und Mirweis Saher, der jüngste Sohn des Ex-Monarchen Zahir Shah. Manipulationen, Gewaltdrohungen und Stimmenkauf bildeten nicht die Ausnahme, sondern waren an der Tagesordnung. Nach Angaben eines UN-Mitarbeiters waren etwa 70% der direkt „gewählten“ Abgeordneten ehemalige Modjahedin-Kommandanten, Führer von islamischen, fundamentalistischen Milizen. Ernüchtert stellte ein westlicher Diplomat dazu fest: „Das bedeutet mehr Scharia und weniger Rechte für Frauen als bisher im Entwurf vorgesehen.“

Rechtzeitig vor Beginn der Loya Djirga war der Sonderbeauftragte von Präsident George Bush für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, zum US-Botschafter in Kabul ernannt worden. Wegen Gerangels rivalisierender Kräfte musste die Eröffnung der Loya Djirga – eigentlich für den 10. Dezember 2003 angesetzt – mehrfach verschoben werden, aus technischen Gründen, wie es offiziell hieß. Die Delegierten waren vor der Eröffnung von UN-Mitarbeitern und seitens der UNO beauftragten Exilafghanen in so genannten „Orientierungen“ auf die Arbeitsweise der Djirga vorbereitet worden.
Mehr als bloße Symbolik stellte das hinter dem Präsidium der Loya Djirga aufgehängte Emblem dar: „Laelaha Elallah, Mohammed Rasulellah“ – es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammad ist sein Gesandter.
Direkt nach Eröffnung der Versammlung am 14. Dezember kam es zu Auseinandersetzungen. Die Monarchisten traten für einen demokratischen Parlamentarismus ein, den sie als „deutschen Weg“ bezeichnen. Die zweite Option, ein Präsidialsystem mit einem Zwei-Kammer-Parlament, wurde von der „amerikanischen Fraktion“ um Karzai mit starker Rückendeckung Khalilzads favorisiert. Die dritte Variante stammt von den Islamisten der Nordallianz; sie akzeptieren zwar den Präsidenten als Chef der Exekutive, befürworten jedoch einen Ministerpräsidenten an der Spitze der Regierung als Gegengewicht zum Staatspräsidenten.

Damit es nicht zum Eklat kam, wurde von den Kontrahenten hinter verschlossenen Türen in Anwesenheit von Francesc Vendrell, dem EU-, und Lakhdar Brahimi, dem UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan, in einem so genannten Verständigungskomitee verhandelt, wobei der neue US-amerikanische Botschafter Zalmay Khalilzad die Hauptrolle spielte.
Die Anhänger Karzais spielten die ethnische Karte und provozierten so die Polarisierung der Delegierten. Ihre Absicht war, die paschtunischen Abgeordneten geschlossen hinter sich zu bringen. Als der Versammlungsleiter Modjadedi am 1. Jänner 2004 eine Abstimmung anordnete, wurde diese von 226 der 502 Delegierten boykottiert, unter ihnen Vertreter ethnischer Minderheiten, Unabhängige und Demokraten, weil bereits geschlossene Kompromisse in der Beschlussfassung nicht berücksichtigt worden waren. So fehlte u.a. der legitime Schutz der Minderheiten in der Verfassung. Im Ergebnis einer Kampfabstimmung wurde dieser mit einfacher Mehrheit verworfen – ein Vorgeschmack darauf, wie es ihnen im künftigen Afghanistan ergehen wird.
Die benachteiligten Kontrahenten Karzais kündigten an, die Endergebnisse der Loya Djirga nicht zu akzeptieren. Die faktische Spaltung Afghanistans wäre vollzogen, ein andauernder Bürgerkrieg und unweigerlich die Verwicklung der NATO die Folge. Um ein Scheitern der Loya Djirga zu verhindern, wurde die Versammlung, die bereits am 30. Dezember hätte beendet sein sollen, bis zum 3.1.2004 unterbrochen. Tags darauf trat Modjadedi vor die Versammlung und verkündete den von einem achtköpfigen Gremium mit Beteiligung und mittels massivem Druck und Einschüchterung durch Khalilzad, Brahimi und Vendrell erreichten Kompromiss, ohne dessen Inhalt bekannt zu geben. Eine formale Abstimmung wurde nicht mehr durchgeführt, denn es war nicht abwegig, dass es zahlreiche Gegenstimmen bzw. Enthaltungen gegeben hätte.

Nicht wenige Delegierte beklagten, dass die Islamistenführer versuchten, geradezu jeden Verfassungsartikel nach dem islamischen Recht der Scharia zu formen. Diese ist zwar in der Verfassung nicht explizit festgeschrieben, gelangt jedoch durch die Formulierung „Kein Gesetz kann im Widerspruch zu den Grundlagen des Islam stehen“ (Art. 3) trotzdem wieder zur Geltung.
Die Gleichberichtigung von Frauen und Männern ist in der Verfassung zwar verankert. Jedoch Papier ist geduldig und die afghanische Realität weitaus komplizierter. Nicht einmal auf der Loya Djirga wurden die Rechte der Frauen geachtet.
Die Delegierte Malalei Joia wurde von den Islamisten bedroht, weil sie auf der Loya Djirga auf deren Verbrechen hingewiesen hatte. „Hier unter diesem Zelt sitzen lauter Räuber, Drogenhändler, Verbrecher und Mörder“, stellte sie fest. „Sie haben das Land aus Machtgier und Geldgier zugrunde gerichtet. Sie gehören nicht in eine freie, erhabene Versammlung, sondern vor Gericht“, sagte sie den anwesenden Modjahedin-Führern ins Gesicht. Versammlungsleiter Modjadedi wies sie daraufhin aus dem Versammlungszelt. Seitdem stand sie unter UNO-Schutz, musste ständig von Leibwächtern begleitet werden, und auch ihre Unterkunft wurde bewacht.
Nirgendwo in der Welt ist die Diskrepanz zwischen geschriebener Verfassung und Verfassungswirklichkeit größer als in Afghanistan. Kabul ist weit, das Recht der Stämme bleibt unangetastet und die Warlords müssen sich auch nicht an das halten, was unter der Regie ausländischer Mächte beschlossen wurde – außer das würde mit militärischen Mitteln durchgesetzt.
Der Kampf auf allen Ebenen geht weiter. Massive Kritik an der Vorgehensweise der USA bzw. ihres Botschafters Khalilzad und Karzais auf der Loya Djrga hat schon eingesetzt. Unterschriften werden von Karzai-Gegnern gesammelt, um das Präsidialsystem durch ein Volksbegehren zu kippen. „Wenn wir an die Macht kommen, werden wir das Präsidialsystem abschaffen und ein parlamentarisches einführen“, sagte der Oppositionspolitiker Hafis Mansur von der Nordallianz schon zwei Tage nach Ende der Loya Djirga.3

Eine Langfassung des Artikels erschien in der Zeitschrift „iz3w“ Nr. 275 (März 2004), www.iz3w.org.

Der Autor lehrt internationale Politik an der Universität Marburg.

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