Industrialisierung braucht vor allem eines: eine reichlich vorhandene Energiequelle, am besten im Inland verfügbar. In China ist das Kohle, und ihr verdankt das Land auch seinen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg. Allein zwischen 2000 und 2004 hat sich der Kohleverbrauch des Landes verdoppelt; 2005 verbrauchte China bereits fast 40% der Weltproduktion, die Hälfte davon in Kohlekraftwerken, die 80% der Elektrizität des Landes liefern. Die hohe Kohleabhängigkeit Chinas, heißt es im jüngsten Bericht des Worldwatch Institute (State of the World 2006), verleihe dem Land „viele der Eigenschaften, die auch England im 19. Jahrhundert charakterisierten“: In weiten Teilen des Landes werden Kohlebriketts zum Kochen und Heizen von Wohnungen und Geschäften genutzt, und die Menschen sind den Auswirkungen der schädlichen Rauchgase unmittelbar ausgesetzt.
Es gibt auch tragischere Parallelen. Der Kohleabbau in Großbritannien dürfte rund 100.000 BergarbeiterInnen das Leben gekostet haben, während in China zuletzt bis zu 6.000 Menschen jährlich bei Grubenunglücken in Kohlebergwerken starben. Dieser hohe Blutzoll ist auch eine Folge der raschen Expansion der Kohlekraftwerkskapazitäten, der gestiegenen Kohlepreise und der Unfähigkeit der Zentralregierung, Sicherheitsstandards oder die Schließung kleiner oder illegaler Kohlebergwerke durchzusetzen.
Leider ist das nur die Spitze des Eisbergs. Ein Großteil der durch Schwefeldioxid, Stickstoff und Feinstaub verursachten Umwelt- und Gesundheitskosten geht auf das Konto der Kohleverfeuerung, ob in den Kohlekraftwerken des Landes, den Stahlwerken oder den rund 500.000 Heizkesseln der Industrie und der Bezirksheizanlagen, die etwa 40% der geförderten Kohle verbrauchen. Ändert sich nichts, könnten diese Kosten bis 2020 von sieben auf 13% des Bruttoinlandsprodukts steigen, schätzt das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP).
Was aber weltweit zunehmend als Bedrohung wahrgenommen wird, ist der steigende Importbedarf Chinas und Indiens bei Öl und Gas sowie die Treibhausgasemissionen der beiden Länder, die sich in den nächsten 20 Jahren verdoppeln könnten. China und Indien könnten den Planeten retten – oder zerstören, schrieb das Time Magazine Anfang April im Rahmen einer dramatischen Warnung vor dem drohenden Klimawandel. Wie diese Rettung vonstatten gehen könnte, war dem Artikel nicht zu entnehmen.
Das ist kein Wunder. Konzepte mit einer Antwort auf diese Frage sind kaum zu finden. Eines der wenigen stammt von einer Task Force des China Council for International Cooperation on Environment and Development (CCICED), eines 1992 von der Regierung gegründeten, unabhängigen Beratungsgremiums für Fragen der internationalen Umwelt- und Entwicklungskooperation. Die Task Force setzt außer auf Energieeffizienz, Erdgas und erneuerbare Energien vor allem auf eine „Modernisierung“ der Kohlenutzung – eine Strategie, die auch vom China Clean Energy Program, einer Initiative der US-Umweltorganisation NRDC (National Resources Defense Council) unterstützt wird.
Was mit „Modernisierung der Kohlenutzung“ gemeint ist, umreißt das Schlüsselwort dieser Strategie: „Polygeneration“ oder die kombinierte Produktion von Elektrizität, Wärme, flüssigen und gasförmigen Brennstoffen und Chemikalien auf Basis von Kohlevergasung in einem Werk. Alle dazu nötigen Technologien werden in China bereits kommerziell genutzt und müssen nur auf innovative Weise kombiniert werden; später könnten diese Polygenerationswerke mit geringem technischen und Kostenaufwand mit einer CO2-Abscheidung nachgerüstet werden, womit China auch seinen zukünftigen Verpflichtungen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen nachkommen könnte.
Die mögliche Entwicklung auf Basis dieser Strategie hat die Task Force in ihrem Bericht („Transforming Coal for Sustainability: A Strategy for China“, 2003) einem „Business as usual“-Szenario gegenübergestellt. Würde Chinas Ölimportabhängigkeit in diesem Szenario bis 2020 auf 60% steigen, bliebe sie im Alternativszenario dagegen langfristig auf 30% beschränkt. Die Primärenergieversorgung Chinas würde aber auch 2050 zu 73% auf fossilen Energieträgern und zu 55% auf Kohle beruhen. Allerdings würde die Kohle nicht verbrannt, sondern vergast; das emittierte CO2 müsste abgeschieden und „sequestriert“, als unterirdisch gespeichert werden (siehe Artikel S. 35).
Ein Erfolg, warnte die Task Force, setze aber einen raschen Beginn der Umsetzung voraus: Diese Polygenerationswerke sollen einen möglichst großen Teil der bis 2020 geplanten konventionellen Kohlekraftwerke ersetzen – als Alternative zu IGCC-Kraftwerken (siehe Fakten S. 32), die derzeit in China aus Kostengründen keine Marktchancen haben und auch im Westen ihrer Durchsetzung harren. Bisher ist lediglich einer der fünf großen Energiekonzerne des Landes, China HuaNeng, am FutureGen-Projekt in den USA beteiligt, und die Regierung finanziert die Mehrkosten eines IGCC-Pilotkraftwerks in Yantai (Shandong), das auch von der Weltbank und einem Kredit der Global Environmental Facility (GEF) gefördert wird.
Ein breiter Ausbau solcher Polygenerationswerke setzt voraus, dass die bei der Herstellung synthetischer Brennstoffe erzeugte Elektrizität mit Gewinn ins Netz eingespeist werden kann. Dieser Preis dürfte etwa dem von Strom aus einem Kohlekraftwerk mit Kontrollen der Schwefel- und Stickstoffoxidemissionen entsprechen, heißt es im Bericht. Im städtischen Bereich würden sie neben Strom auch Dimethylether (DME, ein gasförmiger Brennstoff, der sauberer als Erdgas ist) und Methanol aus Kohle herstellen; im ländlichen Bereich Strom und DME aus Biomasse.
Polygenerationswerke sollten in unmittelbarer Nähe von Kohlebergwerken gebaut werden, was den Vorteil hätte, das chinesische Eisenbahnnetz zu entlasten, das derzeit zu 40% ausschließlich Kohle befördert. Statt der Kohle würde der Strom über das Leitungsnetz und flüssige Brennstoffe per Pipeline transportiert. Um die enormen Infrastrukturkosten zu minimieren, wäre eine Entscheidung für einen zentralen Brennstoff nötig, am besten DME. Der Vorteil wäre, dass in China ebenso wie in Japan und zahlreichen Entwicklungsländern bereits eine Flüssiggas-Infrastruktur (LPG) existiert, die nur adaptiert werden müsste. DME müsste auch in naher Zukunft als Treibstoff der Wahl für den Verkehrssektor eingeführt werden, bevor in den Aufbau einer auf Benzin und Diesel beruhenden Infrastruktur investiert wird.
Eine der zentralen Voraussetzungen eines Erfolgs, wie die AutorInnen des Berichts meinten, wäre etwas wie eine „Reise in den Süden“ wie die von Staatschef Deng Xiao Ping 1992, die den wirtschaftlichen Reformprozess in China wiederbelebte. Dazu ist es zwar offensichtlich bisher nicht gekommen. Zumindest entsprechen jedoch praktisch alle seither bekannt gewordenen wesentlichen Maßnahmen der chinesischen Führung in energiepolitischer Hinsicht durchaus der Vision der Task Force. Beispiele sind das 2004 veröffentlichte Zehn-Punkte-Programm zur Energieeffizienz, das von einer Steigerung der Effizienz der Heizkessel in der Industrie, Kraft-Wärme-Koppelung bis hin zu Energiesparmaßnahmen bei Beleuchtungssystemen und Gebäuden reicht, die Einführung von Standards für den Treibstoffverbrauch von Kraftfahrzeugen, die schärfer sind als in den USA oder das international viel beachtete Gesetz über erneuerbare Energien, das seit Jahresbeginn 2006 in Kraft ist und in dem das Windkraftausbauziel bis 2020 von 20GW auf 30GW erhöht wurde. Nach einer Greenpeace-Studie über Windkraft in China („Wind Guangdong“) könnte theoretisch mit 180GW sogar das Sechsfache erreicht werden, was allerdings wegen der geringeren Verfügbarkeit der Windkraft höchstens 60 GW an Kohlekraftwerkskapazität entsprechen würde – allein 2005 wurden aber rund 70 GW zusätzlich ans Netz gehängt.
Auch in punkto Kohlevergasung geschieht Einiges. Dazu gehören zahlreiche Lizenzverträge über die Nutzung der Kohlevergasungstechnik mit ausländischen Unternehmen, darunter die südafrikanische Sasol, ChevronTexaco, Shell und General Electric, geplante Produktionswerke für flüssige Brennstoffe auf Kohlebasis, die rasche Erweiterung der Methanolproduktion aus Kohle oder das von Jiutai Energy geplante DME-Werk mit einer Kapazität von einer Million Tonnen in Kooperation mit der Rockefeller Foundation.
Die Idee der Polygenerationswerke scheint aber vernachlässigt worden zu sein. Das könnte daran liegen, was das Pacific Northwest Center for Global Security (USA) in einer Analyse von Dezember 2005 konstatiert: an einem weitgehenden institutionellen Versagen der Energiepolitik in China. Schon die zahlreichen, wirtschaftlich kostspieligen Stromversorgungsengpässe seit 2002 waren demnach Ergebnis eines fehlgeleiteten dreijährigen Bauverbots für Kohlekraftwerke nach der Asienkrise von 1998. Dem folgte ein gewaltiger Ausbau der Kohlekraftkapazitäten sowie ein Wildwuchs an Kraftwerken auf Provinz- und lokaler Ebene, der spätestens 2007 zu Überkapazitäten und damit sinkenden Strompreisen führen könnte. Letztere wären für Windkraftbetreiber wie für allfällige Polygenerationswerke gleichermaßen fatal. Sollte sich an diesen institutionellen Rahmenbedingungen nichts ändern, wird Konzepten wie dem der Task Force des CCICED keine große Zukunft beschieden sein.