Hugo Chávez, ein rotes Barett auf dem Kopf und im roten Hemd – seine „Markenzeichen“ – steht unter einem gigantischen Porträt seiner selbst und singt ein patriotisches Lied, und das gar nicht schlecht. Er nimmt ein Fernglas, mustert das Publikum. „Was für eine gewaltige Menge“, murmelt er wie zu sich selbst, in gespielter Überraschung. Er rezitiert aus poetischen Werken venezolanischer Frauen, dann aus den spärlichen Schriften Simón Bolívars, des Befreiers von der spanischen Kolonialherrschaft. Schließlich reitet er die übliche Attacke gegen „Mr. Danger“, den „burro“ (Esel) Präsident Bush, und kündigt die Bildung einer Freiwilligenarmee mit einer Million Mitgliedern an, die Widerstand gegen eine drohende Invasion durch das Reich des Bösen im Norden leisten soll.
Nach zwei Stunden in diesem Stil senkt sich die Dämmerung auf die vielleicht eine halbe Million Chavistas, die sich im Zentrum von Caracas versammelt haben. Nicht schwer zu erkennen, warum Antichavistas glauben, Hugo Chávez, ein begabter Redner, sei im Grunde nichts als ein Demagoge. Denn er hat sich entschieden, an diesem Tag, dem 4. Februar 2006, nicht an seine Wahl vor sieben Jahren, sondern an seinen gescheiterten Militärputsch vor 14 Jahren zu erinnern – der eigentliche Beginn der Bolivarianischen Revolution, wie er versichert.
Was die Antichavistas weniger gerne zugeben: Chávez hat seit Dezember 1998 sechs relativ saubere Wahlen gewonnen. Keine andere politische Persönlichkeit der Welt kann mehr demokratische Legitimität vorweisen, zumindest nicht nach konventionellen Maßstäben. Die Gefängnisse Venezuelas sind nicht mit politischen Gefangenen überfüllt. Die Menschen sprechen nicht im Flüsterton miteinander. Ganz im Gegenteil – in den Zeitungen und Sendungen privater Fernsehstationen ist Feindseligkeit gegen Chávez die Norm. Niemand wird gnadenlos seines märchenhaften oder unrechtmäßig erworbenen Vermögens beraubt, trotz der verbreiteten Armut im Land.
All das muss Antichavistas zweifellos bekannt sein. Anderes scheinen sie kaum zu bemerken. Ihr Hass auf den Mann zeigt sämtliche Kennzeichen des traditionellen Rassismus, an dem die kreolischen (weißen) Oligarchien in ganz Lateinamerika leiden. Denn Chávez ist, wie die meisten VenezolanerInnen, ein „Zambo“, ein Mensch mit schwarzen und indigenen Vorfahren. Daher wird er von jenen verachtet, die überzeugt sind, „ihr“ Land sei ihnen gestohlen worden – und die es wieder zurück haben wollen.
Wie das funktionieren soll, ist jedoch nicht mehr ganz klar. Ein verpatzter Militärputsch im April 2002 – mit kaum verdeckter US-Unterstützung – führte letztlich dazu, dass Chávez seine Kontrolle über die Armee verstärken konnte. Ein Generalstreik im Dezember 2002 beschränkte sich bald auf die Ölindustrie und brach zusammen, was Chávez einen direkten Zugriff auf die Öleinnahmen des Landes bescherte. Im August 2004 ging ein Referendum über die Absetzung des Präsidenten – das sich übrigens auf einen Artikel der von der Opposition angeblich verachteten Verfassung stützte – glatt verloren. Der Boykott der Wahlen Ende 2005 produzierte eine Nationalversammlung unter alleiniger Kontrolle von Chávez-AnhängerInnen. Und noch mehr Stimmenthaltung bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember ist noch das Beste, was die Opposition derzeit zu bieten hat.
Falls Chávez tatsächlich über mehr Macht verfügt als ihm gebührt, dann ist es wohl die Unfähigkeit der Opposition, die sie ihm zugespielt hat. Letztlich ist es aber traurige Wahrheit, dass es gar keine politische Opposition gibt, die diese Bezeichnung verdient – und dass es seit einer Generation auch keine gegeben hat. Wie konnte es dazu kommen?
Die Geschichte Venezuelas gibt einigen Aufschluss, auch wenn sie in der aufgeheizten politischen Atmosphäre nur allzu leicht aus den Augen gerät. Demokratie im westlichen Sinne hat in Venezuela eine relativ kurze Tradition, denn sie begann erst 1958, mit dem Ende einer lang andauernden, besonders üblen Sorte von Militärdiktatur. Um ihrer Wiederkehr einen Riegel vorzuschieben, unterzeichneten alle liberalen DemokratInnen, die Venezuelas Elite aufzubieten hatte, ein Übereinkommen, den „Pakt von Punto Fijo“, der alle anderen politischen Richtungen ausschloss und als Zugabe eine Dosis aggressiven Antikommunismus enthielt.
Vorerst funktionierte das leidlich. Es gab Versuche, die Grundlagen eines Wohlfahrtsstaates zu schaffen und die aus der Kolonialzeit stammenden feudalistischen Verhältnisse in den ländlichen Gebieten zu reformieren. 1976 wurde die Ölindustrie verstaatlicht, und der Ertrag ihres gewaltigen Reichtums floss nun ins Budget, ersetzte praktisch die Steuereinnahmen. Mangels gesicherter Fundamente schlitterte die Vierte Republik jedoch ihrem Niedergang entgegen, in einer Abfolge zunehmend korruptionsgeplagter Versuche, dem Land eine neoliberale Agenda und die extreme Ungerechtigkeit aufzuzwingen, die sie unweigerlich nach sich zieht.
Chávez leugnet es zwar, doch sein Aufstieg ist weitgehend ein Resultat dieser sklerotischen Vierten Republik. Seine Bewegung der Fünften Republik („Movimiento Quinta República“, MVR) ist ein loses Wahlbündnis politischer Gruppierungen, die vom Pakt von Punto Fijo ausgeschlossen worden waren, unter Einschluss einer nicht unbeträchtlichen Zahl politischer KarrieristInnen, die auf den fahrenden Zug aufsprangen.
Mit den hohen Staatseinnahmen aus der Ölförderung konnte Chávez das fortsetzen, was mit dem Punto Fijo begonnen hatte und was eine überwältigende Mehrheit der VenezolanerInnen als Minimum von ihrer Regierung erwartet. Nein, kein Paradies: ein Glas sauberes Wasser hier, zeitgerechte medizinische Behandlung dort, ein Stück Land, Lesen können, ein Mindestmaß an Gerechtigkeit und Respekt.
Wie während der Vierten Republik haben die Öleinahmen es auch Chávez ermöglicht, die überkommenen Institutionen des Staates und der Gesellschaft zu umgehen – und sich nebenbei auch den Diktaten von Weltbank und Internationalem Währungsfonds zu entziehen. Sollte der Ölpreis jemals fallen oder er selbst unter einen Bus geraten, könnten seine Sozialprogramme durchaus zusammenbrechen und nichts als endemische Korruption, Gewalt und Verbrechen hinterlassen.
Wäre das alles, und hinge die Zukunft ausschließlich von der außergewöhnlichen Persönlichkeit eines Hugo Chávez ab, wäre ein gewisser Pessimismus angebracht. Aber es gibt noch mehr. Gegen Ende seiner Rede vom 4. Februar 2006 kam Chávez zu einem Punkt, der widersprüchlich, paradox erscheint. Nicht zum ersten Mal erteilte er lokalen Koordinationsausschüssen und Versammlungen Anweisungen, wie sie das Gerüst einer „protagonistischen“ Regierung „der Straßen“ bilden sollten. Dem folgte der einzige Bestandteil seiner Pläne, auf den die Bezeichnung „bolivarianisch“ zutrifft – ein neuerlicher Aufruf zur Einheit Lateinamerikas, dem unerreichten Ziel Bolívars, doch diesmal gegen das Reich des Bösen im Norden, nicht gegen Spanien.
Das ist doch ein Paradox: ein mächtiger Politiker, der die Menschen auffordert, die Macht zu ergreifen. Allerdings: Chávez ist nicht dumm. Er begreift die zunehmende Stärke der sozialen Bewegungen in seinem Land, die in dem politischen Vakuum entstanden, das der Punto Fijo hinterlassen hat. Und im Gleichschritt mit diesen neuen Verhältnissen radikalisiert er sich. Kann die Bolivarianische Revolution diesen Bewegungen eine neue, dauerhafte Form der politischen Äußerung verschaffen? Die Frage ist noch unbeantwortet.
Was Lateinamerika betrifft, ist das bolivarianische Projekt zumindest im Gange, wenn auch erst in Anfängen. Aber es gibt greifbare Ergebnisse. Ohne das Tauschgeschäft mit Kuba, venezolanisches Öl gegen kubanische ÄrztInnen und LehrerInnen, hätte die Transformation des Gesundheits- und Bildungssystems in Venezuela nicht beginnen können. Der Ankauf der Schuldtitel Argentiniens hilft diesem Land bei seinen Versuchen, Alternativen zur neoliberalen Orthodoxie umzusetzen. Zwar steht Brasilien unter Präsident Lula derzeit etwas zurück, doch haben sich Uruguay, Bolivien und Chile in gewisser Weise dem losen bolivarianischen Bündnis von Kuba, Venezuela und Argentinien zugesellt.
Was sie einander näher bringt, scheinen die tumultartigen Protestbewegungen gegen den Neoliberalismus zu sein, als dessen Inbegriff derzeit das geplante Gesamtamerikanische Freihandelsabkommen gilt. Die Veränderung reicht aber noch tiefer. Nachdem der Kontinent über die Jahre des Verrats und der Unterdrückung ein wenig mehr Immunität gegen falsche Utopien gewonnen hat, kommt nun endlich die echte Identität Lateinamerikas zum Vorschein.
An vorderster Front steht dabei seine indigene Bevölkerung, die das postkoloniale, kreolische Arrangement niemals akzeptierte und auch keinen Platz darin hatte. Aber es erfasst auch die überwiegende Mehrheit der LateinamerikanerInnen, verwandelt die ethnischen Ursprünge eines Evo Morales in Bolivien oder eines Hugo Chávez in Venezuela von einer politischen Hypothek in einen politischen Aktivposten. Ob das nun als soziale, bolivarianische oder sonstige Revolution bezeichnet wird, ist irrelevant. Tatsache ist, dass wir ZeugInnen einer breiten demokratischen Transformation werden, einer Orientierung an einem neuen Ziel, das inmitten des trügerischen Nebels der Geschichte Lateinamerikas langsam an Konturen gewinnt.
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