Bei der Baumwollernte in Usbekistan werden jedes Jahr Millionen Menschen zur Arbeit gezwungen. Früher waren es Schulkinder, jetzt sind es LehrerInnen, ÄrztInnen und Krankenschwestern.
Ein Baumwollfeld in der Nähe der usbekischen Provinzstadt Dschizzak, etwa 200 Kilometer südwestlich von Taschkent. Am Horizont falten sich die Hügelketten des Nuratau-Gebirges. Die Baumwolle hängt an hüfthohen Sträuchern, in Fetzen, als könne sie der warme Steppenwind jeden Moment fortwehen. Auf diesem Feld schuftet die Hälfte der Belegschaft der 8. Sekundarschule von Dschizzak.
Da ist Oyser*, Sportlehrer. Ein Held auf dem Feld, seit er Anfang Herbst einmal 100 Kilogramm Baumwolle an einem Tag gesammelt hat. Die Norm liegt bei 50, erzählt Buchron, der Lehrer für Arbeitskunde. Normalerweise erklärt er den SchülerInnen, wie Pflugscharen funktionieren. Jetzt zeigt er, wie man den Leinensack, in dem die Baumwolle gesammelt wird, tief um die Hüfte schlingt, damit am Ende des Tages der Rücken von der kiloschweren Last nicht allzu sehr schmerzt. Und da ist Gulasal, die Horterzieherin. Sie bringt den Frauen ihrer Arbeitsgruppe Melonenstücke zur Erfrischung. Gulasal singt gern russische Kinderlieder und ihr rundes Gesicht lässt keinen Platz für Zweifel, als sie sagt: „Jeder von uns ist freiwillig hier. Die Ernte ist Ehre und Pflicht.“
Am Rande des Feldes geht ein Mann im Trainingsanzug auf und ab. Es ist der Schuldirektor. Erst später am Tag erzählen ein paar Erntehelfer, dass es in der Nacht zuvor noch eine Versammlung gegeben hat. Die Kreisverwaltung ist unzufrieden, also ist jetzt auch der Direktor unzufrieden. Das Kollektiv erfüllt die Norm nicht. Wer nicht härter arbeitet, hat er gedroht, wird entlassen.
So wie in Dschizzak ist es überall in Usbekistan. Wer auch immer im Dienst des Staates arbeitet, kann zur Arbeit auf dem Feld herangezogen werden: LehrerInnen, ÄrztInnen, Krankenschwestern, PostbotInnen, Arbeiter im Wasserwerk. In Schichten von zehn oder 15 Tagen arbeiten sie als BaumwollpflückerInnen.
In Dschizzak herrscht Ausnahmezustand. An den Schulen fehlen LehrerInnen. Eltern, die mit ihrem Kind zur Kinderklinik kommen, werden abgewiesen und an das allgemeine Krankenhaus verwiesen. Chirurgen organisieren postoperative Behandlungen am Telefon. Die örtlichen Basare öffnen erst ab 17 Uhr, dann kehren die ersten Obst- und GemüsehändlerInnen vom Feld zurück.
Usbekistan zwei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion ist ein staubiges, in Furcht erstarrtes Land. Präsident Islam Karimow regiert mit harter Hand seit fast 22 Jahren. Die größten Geldscheine sind umgerechnet nur noch ein paar Eurocent wert, selbst in der Hauptstadt Taschkent fällt beinahe täglich der Strom aus. Es gibt zwei Dinge, die dieses Land am Leben halten. Eines findet sich unter der Erde – Erdgas. Das andere wächst, wo immer die Leitungen zur künstlichen Bewässerung hinreichen – Baumwolle. Zwei Drittel der landwirtschaftlichen Fläche werden zum Anbau genutzt. Usbekistans Wappen umkränzt rechts ein Getreidebündel, links Baumwolle.
Usbekistan gehört neben den USA und Indien zu den Top 3 der Baumwollexporteure weltweit. Für diesen Spitzenplatz zwang der Staat viele Jahre lang Schulkinder auf die Felder. Bis zu zwei Millionen Kinder ab neun Jahren wurden jeden Sommer und Herbst statt in die Klassenzimmer auf die Felder geschickt. Im Jahr 2012 war erstmals alles anders. Die jahrelangen Proteste internationaler Bürgerrechtsorganisationen und die zahllosen Boykotte großer Textilfirmen hatten offenbar gefruchtet. Es gab im Vorjahr – von ein paar sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Kinderarbeit auf usbekischen Baumwollfeldern. Stattdessen werden nun Staatsbedienstete auf die Felder geschickt.
Mit beiden Füßen trampelt Buchron auf seinen Sammelbeutel ein, er schafft Platz für noch mehr Baumwolle. 200 Sum, umgerechnet acht Eurocent bekommt Buchron pro Kilogramm ausgezahlt. Er muss das Mittagessen bezahlen und den Bus, der die Truppe aufs Feld gefahren hat. Am Ende des Tages hat er etwa drei Euro verdient.
Viele seiner KollegInnen schlingen sich Tücher um Kopf und Gesicht, sie tragen dicke Wollhandschuhe. Sie schützen sich so vor der Sonne, die grell vom Himmel brennt, vor den spitzen Zweigen der Sträucher, die stechen und kratzen, und den Resten der Herbizide, mit denen das Feld aus der Luft besprüht wurde, damit die Blätter von den Pflanzen fallen und die PflückerInnen besser arbeiten können. Der jahrzehntelange Einsatz der Pestizide rächt sich. Die Baumwolle mag Usbekistan Devisen bringen, aber sie bringt auch Tuberkulose, Krebs, Allergien und Infektionen. Vor diesen Krankheiten schützen keine Tücher. Buchron pflückt ohne Tuch. Natürlich seien die Chemikalien gefährlich, sagt er. „Aber das hier ist Baumwolle, unser Brot, unser Gold.“ Und dann lacht er wieder.
Der Staat ist in Usbekistan der übermächtige Akteur im Baumwollgeschäft. Die Bäuerinnen und Bauern dürfen weder darüber bestimmen, was sie anbauen, noch an wen sie verkaufen. Die gesamte Baumwollernte wird zu einem willkürlich niedrig festgesetzten Preis vom Staat aufgekauft. Drei Handelsunternehmen, die direkt dem usbekischen Außenministerium unterstellt sind, bringen die Baumwolle auf den Weltmarkt. Die Einnahmen aus dem Export – die Höhe dieser Summe wird geheim gehalten – unterstehen dem Präsidenten. „Cotton Campaign“, eine Vereinigung internationaler NGOs, darunter Human Rights Watch, die sich gegen die Zwangsarbeit in Usbekistan engagiert, vermutet, dass ein Teil des Geldes direkt auf das Konto Karimows und seiner höchsten Beamten fließt.
Zu den größten Abnehmern usbekischer Baumwolle gehören Bangladesch, China, Russland, Südkorea und Indien. In diesen Ländern betreiben viele europäische und US-amerikanische Textilfirmen ihre Nähereien. Zwar wächst seit Jahren die Zahl der Firmen, die Baumwolle aus Usbekistan offiziell boykottieren. Doch praktische Konsequenzen ergeben sich daraus kaum. Denn schon die Zulieferer der Textilfirmen haben eigene Zulieferer. Die Baumwollfasern gehen von der Spinnerei in die Weberei und dann in die Näherei. Bis an den Anfang dieser Kette machen die Firmen ihren Einfluss oft nicht geltend.
Zudem gelangt usbekische Baumwolle auch direkt nach Europa. Die Initiative „Cotton Campaign“ listet als aktivste Handelspartner neben der Daewoo International Corporation aus Südkorea auch die Otto Stadtlander GmbH aus Deutschland auf. Der staatliche usbekische Baumwollexporteur Uzprommashimpeks nennt auf seiner Webseite die Paul Reinhart AG mit Sitz in Winterthur in der Schweiz als festen Handelspartner.
Dmitrij Kossjakow vergleicht Usbekistan gern mit dem alten Griechenland. Nicht wegen der Demokratie, der Philosophen oder der Architektur. „Ein Sklavenhandel wie im antiken Griechenland ist das hier“, sagt er. Kossjakow ist Bürgerrechtler in Taschkent. Er gehört zu jener Gruppe, die Informationen über die Zustände auf den usbekischen Feldern außer Landes schmuggeln. Es sind Einzelkämpfer, oft aufgerieben vom ständigen Druck der Sicherheitsbehörden. Kossjakow lacht höhnisch, als er erzählt, dass er zuletzt zu 1.200 Euro Geldstrafe verurteilt wurde, weil er eine Demonstration vom Straßenrand aus verfolgte. Dann wieder senkt er die Stimme im eigenen Wohnzimmer aus Furcht vor Richtmikrofonen.
Eigentlich ist der 52-jährige Kossjakow Flugzeugingenieur. Vor sieben Jahren wurde er gekündigt, weil er sich über seinen korrupten Chef bei der Stadtverwaltung beschwert hatte. Seitdem repariert er ab und zu Autos. Einen richtigen Job findet er nicht mehr. Er sagt, jedes Mal, wenn eine Firma ihn nehmen wolle, funke der Geheimdienst dazwischen und untersage die Anstellung. „Sie machen einen nicht immer mit physischer Gewalt und Gefängnis fertig. Sie sorgen dafür, dass du keine Arbeit und kein Geld hast, und drücken dich so zu Boden.“
Kossjakow setzt seine Fähigkeiten nun anders ein. Er hat eine Saftpackung so umgebastelt, dass er darin eine Videokamera verstecken und unauffällig Filme aufnehmen kann. Im Beiwagen des Motorrades seines Freundes Sergej fährt er los und filmt, was immer ihm auf den Baumwollfeldern vor die Linse kommt. Es sind diese Bilder, die weltweit von NGOs veröffentlicht werden. Dmitrij Kossjakows Stimme klingt zum ersten Mal ruhig, als er sagt. „Vielleicht war es tatsächlich mit unser Verdienst, dass es 2012 keine Kinder mehr auf den Baumwollfeldern gab.“
„Aber“, sagt er, „unser Kampf wird weitergehen, so lange es die Zwangsarbeit auf den Feldern gibt.“
* Alle Namen geändert.
Diana Laarz lebt als Journalistin in Moskau und arbeitet von dort aus für die deutsche Agentur Zeitenspiegel Reportagen. Zur letzten Baumwollernte vergangenen September hat sie gemeinsam mit Fotograf Sascha Montag Usbekistan besucht.
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