Unzeitgemäße Fragen

Von Werner Hörtner · · 2004/04

Etwa die, warum die Qualität der Genügsamkeit keine Konjunktur hat oder warum die Raff- und Konsumsucht einen weltweiten Siegeszug angetreten hat.

Haben Sie sich je die naiv klingende Frage gestellt, was die großen Reichen der Welt mit ihren sagenhaften Vermögen anfangen? Oder, vielleicht noch naiver: wieso sie überhaupt solche absurden Reichtümer ansammeln? Wie viel Lebensenergie stecken sie in diese Aufgabe, um dann vielleicht am Lebensabend ein bisschen davon genießen zu können.
Und erst recht jene armen PolitikerInnen und Wirtschaftsbosse, die sich mit kriminellen Machenschaften ihre Milliarden ergaunern. Wie viel Mühe steckt hinter diesem Bestreben, wie viel Zittern und Angst, entdeckt zu werden. Und meistens geht es dann irgendwann einmal schief. Die Familie Tancredi in Italien (Parmalat) zum Beispiel, oder die vielen großen und kleinen Diktatoren, die dann vor Gericht landen oder gestürzt werden. Wieso haben sie sich nicht begnügt mit ein paar Millionen für sich und ihren Clan, sondern mussten endlos weiter raffen, rettungslos ihrer Gier ausgeliefert?

Ja, ich finde, es sind arme Menschen – auch wenn ich beim Gedanken daran, wie viele Güter sie ihren bedürftigen MitbürgerInnen entziehen oder stehlen, nur Wut und Verachtung für sie empfinden kann. Vielleicht sollte man ihnen später dann, im Gefängnis oder im Exil, oder besser noch früher, mitten in ihrer Raff-Phase, Franz Werfel zu lesen geben, der da schrieb: „Der sicherste Reichtum ist die Armut an Bedürfnissen“. Viele geistige Führer der Menschheitsgeschichte, Kulturtätige, Philosophinnen haben in irgendeiner Form diesen Gedanken auch ausgedrückt und gelebt, und ich nehme an, keine und keiner von ihnen hat sich arm gefühlt, auch wenn sie mit materiellen Gütern nicht gerade gesegnet waren.
Aber der Zeitgeist steht nun einmal nicht hinter solchen Gedanken. Vielleicht stand er auch nie dahinter. Dennoch wage ich zu behaupten, dass der Drang zum Anhäufen materieller Güter selten (vorsichtig ausgedrückt) so stark ausgeprägt war wie in der Gegenwart. Als ob im Hinterkopf jedeR einen Dagobert Duck eingenistet hätte, dessen einziges Lebensziel im Raffen besteht. Einige Wenige dieser Dagoberts schaffen es dann, über wirtschaftliche oder politische Macht zu den erträumten Reichtümern zu kommen – die meisten bleiben mit dem Wunsch danach auf der Strecke.

Dieser permanente Wunsch nach Anhäufen und Konsumieren bedeutet nicht nur eine große psychische Gefahr für den Einzelnen, sondern auch in politischer Hinsicht eine Bedrohung für das Kollektiv. Das hedonistische Weltbild stellt jeden anderen Verführungsversuch der Menschheitsgeschichte in den Schatten, ist stärker als alle Verführungen religiöser oder moralischer Weltbilder.
Diese Gefahr hat der große Philosoph Günther Anders schon vor einem halben Jahrhundert erkannt. „Heute sind arme Schlucker diejenigen, die dem Terror ihrer Mästung keinen Widerstand mehr entgegensetzen können, die mit jedem Bissen, den sie schlucken, auch ein bisschen Freiheitsberaubung mitherunterschlucken müssen. Wer unfrei konsumiert, konsumiert Unfreiheit.“
Es wäre für uns selbst und für die Zukunft unseres Planeten von höchster Wichtigkeit, den Dagobert in uns gegen die Erkenntnis von Franz Werfel auszutauschen.

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