Überleben nach den verheerenden Überschwemmungen im Vorjahr – eine Reportage von New Internationalist-Autorin Merryl Wyn Davies aus einem Dorf in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa.
In den schmalen Gassen von Pir Sabaq stehen überall Stein- und Ziegelstapel herum. Auf jeden Schritt hört man den Lärm von Bauarbeiten. Ein Jahr nach den Überschwemmungen befindet sich das Dorf in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa auf dem Weg der Erholung. Es ist spät im Frühling, und der Weizen steht saftig-grün auf den Feldern rund um das Dorf. Doch das geschäftige Treiben ist nur ein dünner Schleier. Die Spuren der Katastrophe, von der das Dorf heimgesucht wurde, sind allenthalben zu sehen.
Von den Gässchen mit den Lehm- und Steinhäusern bis zum Fluss ist es nicht weit. Auf dem höchsten Punkt am Flussufer steht noch eine halbverfallene Gebets- und Schulstätte der Sikhs und ein Denkmal aus dem 19. Jahrhundert für einen Sikh-Kommandanten der längst vergangenen Armee von Ranjit Singh (1780 – 1839), dem ersten Herrscher des geeinigten Punjab. An einer Seite des dreistöckigen Ziegelbaues, dem imposantesten Gebäude des Dorfes, in gleicher Höhe wie die Decke des zweiten Stockwerks, gibt ein Plakat bekannt, dass die Labour Education Foundation auf dem Grundstück nebenan eine neue Schule errichtet.
Das Plakat ist eine Art Hochwassermarkierung, erklärt mir jemand – so hoch waren die Fluten gestiegen. Pir Sabaq liegt am Kabul. Blickt man vom Denkmal flussaufwärts, kann man die elegante Biegung sehen, die zwei Arme des Kabul beim Zusammenfließen beschreiben, nicht einmal einen Kilometer weit weg am anderen Ende des Dorfs. Der Kabul und der Swat, der weiter flussaufwärts in ihn mündet, kommen direkt aus den Bergen, wo die Monsunregenfälle die Flutwelle auslösten, die sich den gesamten Lauf des Indus hinunter bis ins Meer wälzte. Das Unheil für Pir Sabaq war programmiert.
Ein Jahr danach sind beinahe alle Häuser wieder aufgebaut. Nur mehr wenige Notunterkünfte, Schilfhütten mit ihren typischen, blauen Plastikdächern, sind verstreut am Rand des Dorfs zu sehen. Aber den Albtraum und die Folgen der Zerstörung werden die Menschen in Pir Sabaq ihr Leben lang nicht vergessen. Vorbei ist das Vertrauen in die Natur, in die Normalität: Der Boden, auf dem man steht, ist nur scheinbar fest; jede dunkle Wolke kann ein Vorbote einer neuerlichen Katastrophe sein. Die Welt könnte sich wieder in ein Meer aus Schlamm und Wasser verwandeln. Nach einer Überschwemmung herrschen Unsicherheit, Angst und Furcht, auch wenn das Leben mit dem Wiederaufbau weitergeht.
Wen man auch immer nach dem Geschehenen fragt, die Antwort ist stets ein Schwall von Worten. Sie können nicht anders, sie müssen sich immer und immer wieder die Nacht in Erinnerung rufen, in der es regnete und regnete und nicht mehr aufhörte. Sie erzählen, wie es plötzlich Alarm gegeben hatte, wie jeder losrannte, um auf den felsigen Hügel über dem Dorf zu kommen. Die Angst war so groß, dass sie einfach alles liegen und stehen ließen. „Wir konnten nicht einmal unsere heiligen Bücher mitnehmen“, erzählt Abida, Mutter von vier Kindern. „Ich hatte nicht einmal ein Tuch, um mich zu bedecken“, erinnert sich Dilraj, eine junge Witwe mit Kind. Das ist das Erniedrigendste in einem Dorf, in dem Frauen traditionell einen Schleier als Zeichen ihrer Ehre und ihres Selbstwertgefühls tragen.
Mit Tagesanbruch sahen sie, dass Pir Sabaq unter den Fluten verschwunden war. Sie harrten drei Tage auf dem nackten, felsigen Hügel aus, bis endlich Hilfe kam; 17 Tage dauerte es, bis das Hochwasser zurückging. Ihre Häuser waren weggeschwemmt, mit allem, was sich darin befunden hatte. Auch die Tiere waren allesamt weg, ein mehrfacher Verlust für das Dorf: Tiere sind Transportmittel, sie ziehen Pflüge und treiben Maschinen an, und sie liefern Milch und Fleisch. All das musste von anderswo ersetzt werden, mit Geld, an dem ebenso Mangel herrschte wie an den Tieren auf den Feldern.
Alle beenden ihre Erzählungen mit dem gleichen Gedanken: Was tun, wenn das wieder passiert? Es gibt keine Ersparnisse mehr, keinen Notgroschen, keine Familienangehörigen, die einem etwas leihen können, keine Möglichkeit, einen Kredit zu bekommen, kaum bezahlte Arbeit, und alle sind in derselben Lage.
Pir Sabaq hatte aber Glück im Unglück. Die Labour Education Foundation (LEF), eine lokale Zweigorganisation des Internationalen Verbands für Arbeiterbildung („International Federation of Worker Education Associations, IFWEA), betrieb seit einiger Zeit mit der lokalen Steinarbeitergewerkschaft Projekte im Dorf. Die Herstellung von Steinen für den Straßenbau und die Bauwirtschaft ist die Haupteinnahmequelle. „Wir hatten Arbeiter und Freiwillige bei der Hand, die das Dorf und die Menschen kannten. Unsere Präsenz überzeugte Hilfsorganisationen, dass sie [auch] hier arbeiten könnten. Sie versuchten, uns unsere Leute abzuwerben, was wir gerne geschehen ließen“, erklärt LEF-Direktor Khalid Mahmood.
An den verschiedenen aufgemalten Symbolen auf den Schutzwällen rund um die wiederaufgebauten Häuser lässt sich erkennen, wie viele Hilfsorganisationen hier gearbeitet haben. 1.700 Häuser waren völlig zerstört, die übrigen beschädigt. Es gab viel zu tun für die Agenturen, die auch Saatgut bereitstellten. „Das Saatgut war qualitativ besser als das, was sie früher hatten. Deshalb sind die Felder so saftig-grün“, erklärt Khalid. Deshalb, aber auch durch den Umstand, dass die Fluten eine kleine Entschädigung deponierten – den Schlamm. Die Erde von den entwaldeten Bergen tat dem Boden ganz gut.
Der Wiederaufbau der Häuser und die Aussaat waren unmittelbar vorrangig. Die nächste Aufgabe bestand darin, für Arbeit und Bildung zu sorgen. Vor der Überschwemmung, merkt Khalid an, war es für die LEF sehr schwierig, die Frauen im Dorf zu erreichen. Nun besuchen Frauen, die sich früher geweigert hätten, ihr Heim zu verlassen, Kurse über Stickerei, Schneiderei und Geflügelhaltung. Bei den regelmäßigen Treffen im LEF-Gebäude im Dorf herrscht eine lebhafte und kameradschaftliche Atmosphäre, man tröstet sich gegenseitig und schmiedet Pläne für finanziell bessere Zeiten. „Ich werde für andere Leute schneidern, und es wird gut gehen“, sagt Dilraj, Mutter eines „besonderen“ Kindes (wie Kinder mit Behinderungen im Dorf genannt werden). Sie sorgt auch für ihre betagte Mutter und den neun Monate alten Sohn ihrer Schwester. Ihre Kurskollegin Abida warnt allerdings vor zu viel Optimismus: „Alle haben alles verloren. Verkäufer brauchen Käufer – das wird nicht so einfach sein.“
Die Menschen im Dorf sind dankbar für die Hilfe, die sie erhalten haben, aber weder hat sie ihren gesamten Bedarf abgedeckt noch kam sie allen zugute. Sie haben begriffen, dass auch Hilfsorganisationen eigene Interessen haben, während ihre Regierung einfach ineffektiv war. Ihre Antwort: Wir müssen mehr für uns selbst tun. „Es wird meine harte Arbeit sein, und alle werden davon profitieren“, meint etwa Mehnaz, eine der jungen Frauen im Dorf.
In der Bewältigung des Lebens nach der Überschwemmung scheint sich in Pir Sabaq das alte Sprichwort zu bestätigen: „Was uns nicht umbringt, macht uns nur stärker“. „Wir haben heute ein höheres Bewusstsein, was unsere Rechte und Ansprüche betrifft“, bestätigt der Unternehmer Behramand. „Wir müssen lernen, wie wir bekommen, was wir brauchen und was wir haben sollten.“
Die Bewältigung der Katastrophe hat auch neue Führungspersönlichkeiten hervorgebracht. Sie konzentrieren sich auf die Bedürfnisse des Dorfs und legen eine andere Einstellung und Entschlossenheit an den Tag. Was die Zukunft bringt, weiß niemand. Eines aber ist klar: Das Dorf hat nach der Flut Unternehmungsgeist gezeigt und zu seiner eigenen Stimme gefunden. „Vorher hat niemand zugehört. Nun stellt das Dorf Forderungen.“
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