Ungleichheit macht krank

Von Redaktion · · 2013/02

Wenn wir Gesundheit für alle erreichen wollen, reicht es nicht aus, bloß den Zugang zu Behandlung sicherzustellen. Wir müssen auch die Ungleichheit beseitigen, argumentiert New Internationalist-Redakteur Dinyar Godrej.

Leela ist in ihren 60ern und arbeitet sieben Nächte die Woche. Sie muss sich um die über 80-jährige Preeti kümmern, die an Demenz leidet. Leela sorgt dafür, dass ihr in der Nacht nichts zustößt. Sie bringt Preeti ins Bett, verbringt Stunden im Halbschlaf auf ihrer Matratze am Boden, um sofort zur Stelle zu sein, wenn Preeti aufwacht (was oft vorkommt), hilft ihr beim morgendlichen Gang auf die Toilette und beim täglichen Bad, und schließlich wäscht sie – mit der Hand – auch allfällige verschmutzte Kleidung oder Bettlaken. Um neun Uhr früh ist ihre Schicht zu Ende.

Preeti durchbricht ab und zu die in Indien ansonsten in Stein gemeißelten Klassenschranken, fasst ihre Hand und drückt sie in Dankbarkeit. Leelas Ergebenheit gegenüber Preeti geht zwar über das Pflichtgefühl einer Hausangestellten hinaus, aber sie sehnt sich dennoch danach, regelmäßig einen freien Tag zu haben. Wenn sie sich unwohl fühlt, bittet sie jemand von Preetis Familie um Tabletten. Meist bekommt sie das Schmerzmittel Paracetamol oder eines der zahlreichen Mittel gegen Erkältung, die in Indien verkauft werden. Aber wenn sie wirklich nicht mehr kann, meldet sie sich krank. Dann bringt sie ihr Sohn zu einem Arzt, der arme PatientInnen behandelt. Er verpasst ihr eine Spritze, wofür sie mit ihrem hart verdienten Geld bezahlen muss. Für Leela bedeutet die Spritze, dass sie ernst genommen wurde, auch wenn sie bestenfalls Vitamine oder schlimmstenfalls bloß eine Salzlösung bekommen hat. Dem Arzt ist klar, dass es zwecklos wäre, nach anderen Ursachen ihrer Symptome zu suchen – sie könnte sich eine allfällige Behandlung ohnehin nicht leisten.

Die Familie Preetis andererseits hat genug Geld, um die alte Frau fachärztlich betreuen zu lassen und Hausbesuche zu bezahlen. Sofern nötig, könnten sie auch den Gürtel enger schnallen und für die enormen Kosten einer Behandlung in dem modernen Privatkrankenhaus am Stadtrand aufkommen – eines von der Sorte, die von der Regierung den Grund geschenkt bekommen und subventioniert werden, falls sie versprechen, ein paar Betten für Arme zu reservieren. Eines jener Spitäler, das sogar von Leuten aus dem Westen frequentiert wird, entweder weil sie zu lange auf einen Termin warten mussten oder eine Therapie benötigen, die ihnen zuhause zu teuer kommt.

Trotzdem ist Leela mit ihren Placebo-Spritzen noch immer besser dran als ein Gutteil der armen indischen Landbevölkerung. In vielen Dörfern herrscht extreme Armut, und Menschen sterben, weil ihnen eine Röntgenuntersuchung auf Tuberkulose zu teuer war. Dabei gibt es für diese Krankheit Behandlungen, die nicht mehr als 20 US-Dollar kosten.

In Indien besteht zwar eine öffentliche Gesundheitsversorgung, aber das System leidet unter chronischem Geldmangel: Die Gesundheitsausgaben der Regierung belaufen sich auf knapp ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (bei den Rüstungsausgaben liegt Indien weltweit allerdings auf Platz 8). Die Wahrheit ist so einfach wie tödlich: In Indien – wie im Großteil der Welt überhaupt – ist die Gesundheitsversorgung von einer Mehrklassenmedizin geprägt, die unter kapitalistischen Verhältnissen unvermeidlich scheint – medizinische Spitzenleistungen für die Reichen, weit weniger Optionen für die Armen. Glaubt man KommentatorInnen aus dem Westen, bekennt sich die indische Regierung neuerdings zu einer universellen Gesundheitsversorgung. Die Menschen in Indien selbst werden das erst glauben, wenn solchen Worten Taten folgen.

Nur wenige würden bestreiten, dass es ein Recht auf Leben gibt. Das Recht auf Gesundheit folgt zwar logisch daraus, ist aber nicht ganz unumstritten, vor allem was die damit verbundenen Kosten betrifft. Aber auch wenn einem „bloß“ das Recht auf Gesundheit verweigert wird, kann das Endergebnis dasselbe sein: man stirbt. Manche würden Mord dazu sagen.

Im relativ wohlhabenden Westen geraten die Gesundheitsbudgets unter Druck, da immer mehr Mittel für Hightech-Medizin ausgegeben werden anstatt für Vorbeugung und Gesundheitsförderung. Die Praktiken der großen Pharmamultis spielen ebenfalls eine Rolle. Vergangenen September berichtete das New England Journal of Medicine, dass allein in den letzten drei Jahren 26 Unternehmen wegen krimineller Machenschaften zu Geldstrafen von zusammen mehr als elf Mrd. Dollar verurteilt wurden, u.a. wegen der Fälschung von Angaben über die Sicherheit von Medikamenten und wegen fahrlässiger Bewerbung von Präparaten für nicht zugelassene Anwendungen. Aber selbst im Rahmen der legalen Geschäftstätigkeit hat für die Branche oft das Priorität, was sich verkaufen lässt und nicht das, was wirklich erforderlich wäre – anstatt echter Innovation werden hochpreisige Produkte mit relativ geringem therapeutischen Mehrwert entwickelt.

Vorbeugung und Gesundheitsförderung ist natürlich auch in den Entwicklungsländern essenziell und ebenso kosteneffizient. Hier geht es aber auch um Grundlegendes wie ausreichende Ernährung, sauberes Trinkwasser, angemessene sanitäre Einrichtungen und Bildung, die sowohl die Beschäftigungschancen erhöhen als auch zu besseren Gesundheitsentscheidungen führen kann. Behandlungen müssen sicher, angemessen und wirksam sein, und sie sind öffentlich zu finanzieren. Gebühren für Gesundheitsleistungen stellen Arme vor unzumutbare Optionen: den finanziellen Ruin riskieren, beim Essen sparen, ein paar Medikamente selbst kaufen und auf das Beste hoffen oder überhaupt auf eine Behandlung verzichten.

Eine andere Vision der Gesundheitsversorgung wurde 1978 auf einer historischen Konferenz in Alma-Ata in der damaligen Sowjetunion formuliert: Die Großen und Mächtigen der Gesundheitspolitik sowie RegierungsvertreterInnen aus aller Welt einigten sich darauf, „Gesundheit für alle“ bis zum Jahr 2000 zu verwirklichen. Die primäre Gesundheitsversorgung, so die Definition in der „Alma-Ata-Erklärung“, beruhe „auf der Grundlage praktischer, wissenschaftlich fundierter und gesellschaftlich akzeptabler Methoden und Technologie“ und werde „dem Einzelnen und Familien in der Gemeinschaft durch deren volle Mitwirkung sowie zu Kosten universell zugänglich gemacht, die sich die Gemeinschaft und das Land (…) leisten können“.

Diese Weg weisende, weltweit unterstützte und internationalistische Vision löste sich wenig später in Luft auf – in den 1980er Jahren, als die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) überschuldeten Ländern Strukturanpassungsprogramme (SAPs) aufzwangen und die Bedienung der Auslandschulden auf Kosten der übrigen öffentlichen Ausgaben durchsetzten. Eine der Säulen der SAPs waren Benutzergebühren für Leistungen im Bereich der Gesundheit (und Bildung), die schönfärberisch als „gemeinschaftliche Finanzierung“, „Kostenbeteiligung“ oder „Kostendeckung“ bezeichnet wurden.

In großen Teilen Afrikas wurde die ohnehin rudimentäre Gesundheitsversorgung weiter geschwächt, zu Lasten der ärmsten und gefährdetsten Menschen, und vermeidbare Krankheiten breiteten sich unkontrolliert aus. Kranke warteten in der Regel zu lange, bis sie Hilfe suchten. In Kenia führte eine Gebühr von bloß 33 Cents dazu, dass sich die Zahl der BesucherInnen in Gesundheitszentren halbierte. Zusammen mit dem anhaltenden „Brain drain“ medizinischer Fachkräfte hatte das den Effekt eines Kahlschlags.

Gesundheit und Gerechtigkeit im Web

Global Health Check: globalhealthcheck.org
Global Health Watch: ghwatch.org
Health Action International: haiweb.org
Health Gap: healthgap.org
Medact: medact.org
People’s Health Movement: phmovement.org

Die Weltbank hat vehement bestritten, für diese Auswirkungen mitverantwortlich zu sein: Es wäre stets geplant gewesen, die Ärmsten von Gebühren auszunehmen und die Höhe der Selbstbehalte mit der Zahlungsfähigkeit der BenutzerInnen abzustimmen. Kleine Gebühren, so eines der lächerlichen Argumente, würden die „Verschwendung“ im Gesundheitssystem verringern und zu einer höheren Wertschätzung der Leistungen durch die BenutzerInnen führen. Zu Erinnerung: Wir sprechen über arme Leute, die nur das Nötigste zur Verfügung haben und für die Verschwendung etwas ist, was sich nur weit wohlhabendere Menschen als sie leisten können.

Um die Sünden von drei Jahrzehnten gutzumachen, braucht es zuallererst einen Schuldenerlass, wozu die Weltbank, IWF und der Klub der reichen Länder durchaus in der Lage sind. Nach Jahren mühsamer Kampagnen der Zivilgesellschaft wird nun diesbezüglich ein Anfang gemacht, obwohl der Schuldenberg noch alles andere als abgetragen ist.

Heute ist es in gesundheitspolitischen Kreisen wieder modisch geworden, eine öffentlich finanzierte universelle Gesundheitsversorgung zu propagieren (fast als ob es sich um eine intelligente neue Idee handeln würde). Vergangenen September, zeitgleich mit dem Beginn der Sitzungsperiode der UN-Generalversammlung, veröffentlichte das medizinische Journal The Lancet eine Reihe von Artikeln zum Thema, darunter ein Paper des Ökonomen und Bestseller-Autors Jeffrey Sachs. „Eine schlechte Gesundheit ist mit negativen Auswirkungen verbunden, sowohl auf Einzelne wie auf Gemeinschaften, in armen und reichen Ländern“, schreibt Sachs, und folgert: „Die Gesellschaft hat daher ein begründetes Interesse daran, den Zugang armer Menschen zur Gesundheitsversorgung sicherzustellen.“ Ein Minimum an Gesundheitsleistungen würde etwa 50 bis 60 Dollar jährlich kosten – weit mehr als das, was sich die ärmsten Länder leisten können; nur ein Bruchteil davon sei potenziell verfügbar, nämlich bloß neun Dollar. *)

Die Dringlichkeit internationaler Solidarität in diesem Bereich ist unbestritten. Aber kann sie über Impfprogramme und die Ambitionen philanthropischer Kapitalisten hinausgehen? Was ist mit dem stets neu verübten Gesundheitsverbrechen an beinahe einer Milliarde Menschen, die ständig unter- oder mangelernährt sind? Eine umfassende Vision von Gesundheitsversorgung für eine solche Welt muss auch eine Vision größerer Gleichheit beinhalten. Sie darf sich nicht auf eine „Beruhigungspille“ beschränken und bloß den Mindestbedarf abdecken; sie muss über die bloße Vermeidung und Behandlung von Krankheiten hinausgehen, für echte Gesundheit sorgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das mit einem freien Markt für Medikamente und mit Benutzergebühren gelingt, ist gleich Null, es sei denn im Fall einer Bevölkerung mit gleich verteilten hohen Einkommen. Die Vision muss zum öffentlichen Interesse erklärt, zum Ziel der Politik gemacht werden.

Sie muss auch die soziale Ungleichheit bekämpfen, nicht sie verstärken wie es die Mehrklassenmedizin tut. Dass soziale Ungleichheit eine Rolle spielt, ist in Ländern offensichtlich, wo es absolute Armut gibt; dort können sich nur Wohlhabende eine Gesundheitsversorgung leisten, die dem Standard in reichen Ländern entspricht. In den letzten beiden Jahrzehnten haben aber zahlreiche Studien gezeigt, dass soziale Ungleichheit auch in reichen Ländern ein wichtiger Faktor ist, auch wenn hier in der Regel nur relative Armut existiert. Die Ungleichheit allein schadet der Gesundheit, und im reichen Norden gab es noch nie eine derartige Ungleichheit wie heute.

Die Artikel dieses Themas wurden zuerst im Monatsmagazin „New Internationalist“ (Ausgabe 457, November 2012) veröffentlicht. Wir danken den KollegInnen in Großbritannien für die gute Zusammenarbeit.

Der „New Internationalist“ kann unter der Adresse:
McGowan House
10 Waterside Way
Northampton, NN4 7XD, UK
bezogen werden (Jahresabo: 37,85 Pfund; Telefon: 0044/ 1604 251 046). www.newint.org.
Redaktionelle Bearbeitung und Kürzung der Artikel: Irmgard Kirchner.
Übersetzung: Robert Poth.

Um die gesundheitliche Ungleichheit zu verringern, muss man nicht alle unermesslich reich machen, sondern bloß gleicher. Länder mit einer hohen Ungleichheit wie Großbritannien und die USA schneiden bei einer Reihe von Gesundheitsindikatoren schlechter ab als eher egalitäre Länder wie Japan und Schweden. Die Verfügbarkeit modernster medizinischer Behandlungstechniken bringt in dieser Hinsicht nur wenig. Der indische Ökonom Amartya Sen betonte, dass die Lebenserwartung in Großbritannien nicht in der Zeit des raschesten Wirtschaftswachstums am schnellsten zunahm, sondern während der Weltkriege, als der gesellschaftliche Zusammenhalt einen historischen Höhepunkt erreichte.

Mit der wachsenden sozialen Ungleichheit im Gefolge der Finanzkrise ist auch bei der Gesundheit und der Gesundheitsversorgung eine zunehmende Auseinanderentwicklung zu beobachten. Griechenland und Portugal etwa erhöhen die Benutzergebühren, und gleichzeitig breiten sich auch die „Krankheiten der Armen“ wieder aus. Mittlerweile haben Länder mittleren Einkommens wie Thailand, Mexiko und Brasilien ihre Bemühungen um eine gute öffentliche Gesundheitsversorgung verstärkt, woraus ersichtlich wird, dass es in dieser Frage nicht nur um Ressourcen, sondern auch um den politischen Willen geht. Bemerkenswert sind die diesbezüglichen Erfolge Kubas (siehe Artikel Seite 43).

Die Medizin hat im vergangenen Jahrhundert enorme Fortschritte gemacht. In den armen Ländern haben kleine Interventionen zweifellos ein enormes Potenzial, große Veränderungen im Leben der Menschen zu bewirken, sie sind aber nicht der Weisheit letzter Schluss. Die Ungleichheit im Bereich Gesundheit und Gesundheitsversorgung wird sich nur beseitigen lassen, wenn wir sie als Nebenerscheinung der enormen sozialen Ungleichheit in unserer Welt begreifen. Um das zu verändern, braucht es eine Vision und den politischen Willen, sie zu verwirklichen. Das Problem besteht darin, diesen Willen zu generieren. Aber das ist nichts Neues.

Copyright New Internationalist

*) Jeffrey D. Sachs, „Achieving universal health coverage in low-income settings“, The Lancet, Vol 380 No 9845, 8. September 2012.

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