Spätestens bei der nächsten UNO-Weltkonferenz gegen Rassismus wird die Frage nach Kompensation für kolonialistisches Unrecht wieder virulent. Die Staaten der Gesellschaften, die davon profitierten, müssen sich ihrer Verantwortung stellen, meint Henning Melber.
Fast alle reden wenn nicht vom Wetter, so doch vom Klima. Dabei geht es genauer betrachtet nicht „nur“ um die Zukunft unserer Lebenswelt, sondern auch deren Vergangenheit. Ein Diskurs über den Bankrott eines vermeintlich universellen „way of life“, den Europa in alle Teile der Erde zu exportieren bzw. dort – notfalls mit Gewalt – durchzusetzen trachtete, ist längst überfällig.
Die historische Verortung dessen, was wir heutzutage so gängig als neuzeitliches Phänomen der Globalisierung charakterisieren, reicht mindestens zurück bis in die Zeiten des Sklavenhandels. Organisierte Plünderung und Knechtung eines Kontinents führte zu Konzentration und Anhäufung von Wohlstand in relativ wenigen Händen. Die auch indirekten NutznießerInnen solcher „Entwicklung“ lebten überwiegend in den im frühen Industrialisierungsprozess befindlichen Staaten (von den wenigen lokalen Komplizen und Erfüllungsgehilfinnen anderswo einmal abgesehen).
Schon damals wurde so getan, als ob dem europäischen „Zivilisationsmodell“ selbst eine universelle Komponente inne wohne, die letztlich allen Menschen zugute käme. Der damit verbundene Fortschritts- und Wachstumsglaube einer neuzeitlichen Modernisierung versprach Lebensqualität für alle. Dieses System hat abgewirtschaftet, da dessen reklamierte Verallgemeinerung eben nicht einzulösen war. Schon lange lässt sich aus Sicht der davon nicht begünstigten Mehrheit an der Frage (ver-)zweifeln, was daran wirklich Gutes (schon gar für alle) gewesen sein soll. Die ökonomischen und ökologischen „Grenzen des Wachstums“ verlangen stattdessen den Blick auf strukturelle Ursachen und Hypotheken in der Geschichte nicht nur der kapitalistischen Industrieländer.
So kann die Erinnerung an den Kolonialismus und seine Opfer nicht aus dem Gedächtnis getilgt werden, schon gar nicht dem der Nachkommen dieser Opfer. Denn das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Dieses Diktum von William Faulkner diente als Eingangsmotto für den seinerzeit Bahn brechenden Dokumentarfilm „Die Liebe zum Imperium“, mit dem Peter Heller vor 30 Jahren eine frühe selbstkritische Reflektion des deutschen Kolonialismus als Symptom des europäischen Imperialismus präsentierte.
Seither haben sich, vor allem in jüngerer Zeit, die Stimmen jener gemehrt, die sowohl in den einstigen Metropolstaaten als auch in den von diesen okkupierten Territorien in aller Welt an die historische Verantwortung erinnern und diese einklagen. Vor Gerichten in England versuchen die durch britische Soldaten geschändeten, noch lebenden Opfer der brutalen Zerschlagung der Mau-Mau-Bewegung im Kenia der 1950er Jahre ihr Recht zu erstreiten. Im deutschen Bundestag wie auch im namibischen Parlament werden Entschädigungsforderungen von Nachkommen von Überlebenden des deutschen Völkermords in Südwestafrika verhandelt. Gewaltsam wurden damals vor über einem Jahrhundert die Herero und Nama ihrer Existenzgrundlage beraubt. Die Stimmen reichen bis zur internationalen Kampagne für Kompensation für die unwiderrufliche strukturelle Deformierung eines ganzen Kontinents durch den transatlantischen Sklavenhandel. Denn „die zeitliche Nähe oder Ferne eines Verbrechens, dessen Auswirkungen in der Gegenwart noch erkennbar sind, ist kein Argument für oder gegen die Rechtmäßigkeit der Forderung nach Wiedergutmachung“, stellt der nigerianische Nobelpreisträger Wole Soyinka in seinem Essay über „Die Last des Erinnerns“ fest.
Die umstrittene UNO-Weltkonferenz gegen Rassismus von 2001 in Durban, Südafrika, soll in der zweiten Jahreshälfte 2009 als Durban II fortgesetzt werden. Grundlage dafür ist ein offizieller Beschluss, der Ende 2007 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde – bei Gegenstimmen von Israel und den USA und Enthaltungen von Australien, den Fidschi Inseln, Kambodscha und Kanada. Spätestens dann wird die Reparationsfrage für koloniales Unrecht erneut ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Denn trotz aller Hegemonialstrukturen sichert die neue internationale Ordnung, dass die „Verdammten dieser Erde“ (sowohl im Marxschen Sinne wie in dem Fanons) beharrlich die vom Mythos westlicher Universalwerte gerufenen Geister von Freiheits-, Gleichheits- und Gerechtigkeitspostulaten in Anspruch nehmen werden. Und damit die „Tätergesellschaften“ für die Sünden ihrer Vergangenheit (und Gegenwart) zur Verantwortung ziehen.
Theodor W. Adorno stellte schon in seinem Essay „Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?“ fest: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“ Der europäische Kolonialismus hat dem biblischen Leitspruch, sich die Erde untertan zu machen, besonders handfeste Gestalt verliehen und besteht modifiziert weiter in der Fortschrittsgläubigkeit eines spezifischen Entwicklungsmodells. Die Staaten jener Gesellschaften, die von der kolonialen Expansion zuvorderst profitierten, werden sich früher oder später ihrer historischen Verantwortung stellen müssen, nicht nur in klimapolitischer Hinsicht. Sie werden die dadurch mit begründete privilegierte Lebensweise eines Teils der Menschheit auf Kosten der Mehrheit tiefer gehend hinterfragen müssen.
Henning Melber ist Direktor der Dag Hammarskjöld Stiftung in Uppsala/Schweden. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Rassismus verfasste er zuletzt ein Kapitel für den Sammelband „Rassismus“, hg. von Bea Gomes, Andreas Hofbauer, Walter Schicho und Arno Sonderegger (Mandelbaum Verlag 2008).