Ein Drittel der Weltbevölkerung hat keinen geregelten Zugang zu den benötigten Medikamenten – Pharmapatente sind einer der Hauptgründe. NI-Autor Nick Harvey über ein System, in dem der Profit wichtiger ist als die Gesundheit.
„In den Zeitungen wird über die ‚Patentkriege‘ zwischen Apple und Samsung geschrieben, aber wenn es um Medikamente geht, wird diese Metaphorik nie verwendet, obwohl hier wirklich Menschen sterben“, sagt Michelle Childs, Leiterin der Politikabteilung der Medikamentenkampagne von Médecins Sans Frontières (MSF). „Die Behandlung von Krankheiten ist ein gesellschaftliches Bedürfnis und sollte nicht ein Geschäftsziel sein wie die Herstellung besserer Telefone.“
Vordergründig hat das Patentsystem den Zweck, Innovationen zu gewährleisten. Wenn ein Pharmaunternehmen ein neues Medikament entwickelt, kann bei Erfüllung der Voraussetzungen ein befristetes Monopol (in der Regel 20 Jahre) für seine Vermarktung erteilt werden. Das soll dem Unternehmen ermöglichen, seine Kosten für Forschung & Entwicklung (F&E) hereinzubringen; in der Regel lässt sich dabei auch ein ansehnlicher Gewinn erzielen.
Wenn Patente auslaufen oder umgangen werden, führt der Wettbewerb der Hersteller so genannter Generika, Nachahmerversionen des Medikaments mit demselben Wirkstoff, zu massiven Preisreduktionen. Dank der Produktion von Generika kosten HIV-Behandlungsregime, für die zur Jahrtausendwende noch mehr als 10.000 US-Dollar pro PatientIn und Jahr verlangt wurden, heute weniger als 100 Dollar. Solange aber der Patentschutz besteht, kann der Patentinhaber dafür verlangen, was er will.
„Wenn man einem Unternehmen wie Pfizer oder GlaxoSmithKline ein 20-jähriges Monopol auf ein Medikament gewährt, sollte man nicht schockiert sein, wenn sie es so teuer wie möglich verkaufen“, sagt Jamie Love, Direktor von Knowledge Ecology International (KEI), einer Lobbygruppe zum Thema geistige Urheberrechte. „Jeder weiß, dass sie den Aktionären verantwortlich sind, und die wollen eine ordentliche Rendite sehen.“
Zu einer weiteren Einschränkung des Zugangs zu Medikamenten kam es 1995, als im Rahmen der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPS) in Kraft trat. Es ermöglichte den Pharmaunternehmen, ihre Patentrechte weltweit durchzusetzen. Ländern, die billige Medikamente herstellen konnten, weil sie die Patente nicht anerkannten, darunter Thailand, Indien und Brasilien, wurde bis 2005 Zeit gegeben, die strengen TRIPS-Regeln einzuhalten; die Frist für die ärmsten Länder läuft bis 2016.
Die neuen Regeln betrafen insbesondere Indien – nicht nur wegen seiner 1,2 Mrd. Menschen: Die Pharmaindustrie des Subkontinents ist für viele Entwicklungsländer die wichtigste Quelle billiger Generika, und auch Organisationen wie MSF und der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria versorgen sich in Indien.
Menschen, die eine langfristige medikamentöse Behandlung benötigen, sind bereits von TRIPS betroffen. „Wenn man an einer chronischen Krankheit leidet wie Aids, muss man die Medikation ändern, entweder weil sich Resistenz entwickelt oder man irgendwann einmal eine weniger toxische Kombination benötigt“, erklärt Michelle Childs. „Eine Reihe dieser neuen Medikamente sind nun in Indien patentgeschützt, und sie sind rund 14-mal teurer als die erste Medikamentengeneration, die wir eingesetzt haben.“
Mittlerweile ist Indien auch der wichtigste Schauplatz von Gerichtsverfahren über Medikamentenpatente zwischen der Regierung und NGOs einerseits und großen Pharmaunternehmen andererseits. Stein des Anstoßes ist Artikel 3 (d) des indischen Patentrechts, der eine Patentierung von Medikamenten ausschließt, sofern sie sich nur geringfügig von bereits existierenden Präparaten unterscheiden – Patentanträge für geringfügige Modifikationen sind eine bekannte Praxis der Branche, um den Patentschutz zu verlängern.
Das Schweizer Pharmaunternehmen Novartis etwa bekämpft seit 2006 die auf Artikel 3(d) basierende Entscheidung, dem Konzern kein Patent auf das Krebsmittel Glivec (Imatinib) zu erteilen – Begründung: Es handle sich um eine Salzform einer früheren Version des Präparats, die zwar zu einer höheren Bioverfügbarkeit des Wirkstoffs führe, aber die Krankheit nicht besser bekämpfe. In Indien waren 2006 Nachahmerversionen von Glivec um weniger als 200 Dollar pro Patient und Monat erhältlich – Novartis verkauft das Präparat um 2.200 Dollar. In Indien allerdings stellt Novartis das Medikament weitgehend (95% der PatientInnen) gratis zur Verfügung (siehe SWM 3/2007, Seite 17).
Thema Pharmapatente im Südwind Magazin
Zur Pharmaindustrie, WTO, Generika siehe SWM 2/2003, Mit Zähnen und Klauen
Zur Novartis-Klage in Indien siehe SWM 3/2007, Kein Patentrezept
Zu Alternativen zum Patentsystem siehe „Ein Problem der falschen Regeln“ (pdf), Gespräch mit Tido von Schön-Angerer von Ärzte ohne Grenzen (MSF) für das Südwind Magazin, April 2008 (bisher unveröffentlicht).
Sollte Novartis obsiegen, könnte die gesamte weltweite Generikaherstellung betroffen sein, da es in diesem Verfahren nicht bloß um ein einzelnes Patent, sondern um das indische Gesetz selbst geht. „Das Verfahren wird weltweit aufmerksam verfolgt“, sagt Chalermsak Kittitrakul, Mitarbeiter der AIDS Access Foundation in Thailand. „Wenn Novartis gewinnt, könnte das andere Länder davon abschrecken, dem indischen Beispiel zu folgen.“
Ob der Patentschutz aber tatsächlich erforderlich ist, um die Entwicklung neuer Medikamente zu gewährleisten, ist fraglich – das Argument hält jedenfalls nur unter der Bedingung, dass das aktuelle System der Medikamentenentwicklung das einzig mögliche ist.
„Pharmaunternehmen behaupten, die F&E-Aufwendungen für ein neues Medikament beliefen sich auf rund 1,3 bis 1,7 Mrd. Dollar, aber sie liefern keine Daten, die das untermauern könnten“, betont Donald Light, Professor für vergleichende Gesundheitsforschung an der University of Medicine and Dentistry von New Jersey. „Unsere eigenen Analysen deuten darauf hin, dass die tatsächlichen Kosten etwa ein Zehntel dessen ausmachen, was sie behaupten.“
Der Hauptgrund für diese Diskrepanz, so WissenschaftlerInnen, ist der Umstand, dass die Unternehmen bei ihren Angaben weder Steuerbefreiungen noch öffentlich finanzierte Teilbereiche der F&E berücksichtigen. Rund 80 Prozent der weltweiten F&E-Aufwendungen für die Entwicklung neuer Medikamente stammen aus öffentlichen Mitteln, was von der Pharmaindustrie nicht gerne an die große Glocke gehängt wird.
Einige Länder haben die Sache selbst in die Hand genommen und die Herstellung von Generika mittels Zwangslizenzierung genehmigt, was nach den WTO-Regeln in Situationen „äußerster Dringlichkeit“ zulässig ist. Ob eine solche vorliegt, ist jedoch eine Frage der Interpretation, und Regierungen werden immer wieder von Pharmaunternehmen geklagt, manchmal mit gravierenden Folgen.
Derzeit läuft eine Klage des deutschen Pharmaunternehmens Bayer gegen Indien wegen der Zwangslizenzierung des Krebsmedikaments Nexavar (Sorafenib), womit die Kosten auf ein Dreißigstel des vorgeschlagenen Preises von 5.000 Dollar pro Monat gesenkt wurden. In Anbetracht derart hoher potenzieller Gewinneinbußen ist es kaum überraschend, dass die Pharmabranche Zwangslizenzierungen umgehend als „Bedrohung der Innovation“ verteufelt.
„Genauso wie das TRIPS-Übereinkommen den privaten Markt schützt, brauchen wir ein neues weltweites Abkommen oder eine internationale Konvention, um die nötige F&E für Krankheiten zu generieren, die in Entwicklungsländern auftreten“, sagt Michelle Childs. „Jedes Land sollte einen Betrag in F&E investieren, und die Forschungsergebnisse sollten öffentlich sein, sodass alle das Medikament herstellen können und der Preis erschwinglich wird.“
Eine internationale Konvention über die Finanzierung medizinischer Innovationen war eine der zentralen Empfehlungen der letzten Weltgesundheitsversammlung Ende Mai 2012. Eine Möglichkeit wäre etwa, dass Regierungen einen Fonds zur Finanzierung von Geldpreisen für ForscherInnen einrichten, die ein essenzielles Medikament entwickeln. In der Folge könnte es von Generika-Herstellern erzeugt und billig angeboten werden, womit die Produktpreise von den Entwicklungskosten „abgekoppelt“ wären. Wie die BefürworterInnen dieses Modells argumentieren, könnten diese Preise je nach Innovation unterschiedlich sein und nach und nach eingeführt werden, anfangs etwa für neue Aids-Medikamente in Afrika, und in der Folge für immer weitere Behandlungen. Letztlich könnten derart essenzielle Medikamente so billig werden wie Aspirin oder Paracetamol, was praktisch einer Revolution gleichkäme.
Insider aus der Pharmabranche sind allerdings skeptisch. „Gut, man bekommt einen Preis, aber wird das genug sein, damit so viele Leute jahrelang alle ihre Zeit und Energie dafür aufwenden?“, fragt Mark Grayson, stellvertretender Vicepresident von Pharmaceutical Research and Manufacturers of America (PhRMA), des Verbands der forschenden Pharmabranche in den USA. „Bei vielen Medikamenten wissen wir zehn Jahre lang nicht, wie gut sie sind. Wer wird die Überwachung übernehmen, nachdem sie zugelassen wurden? Geben sie den Preis wieder zurück, wenn es später Probleme gibt?“
Diese Abneigung, Alternativen in Betracht zu ziehen, ist in Anbetracht der Profite, die im derzeitigen System erzielt werden können, vorhersehbar. Unternehmen wie Novartis machen jedes Quartal mehr als 2,3 Mrd. Dollar Gewinn – zuerst das Geld, dann die Moral, lautet offenbar die Devise. Aber es muss nicht so sein.
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Nick Harvey ist ein britischer Journalist und hat sich auf Menschenrechtsthemen spezialisiert.
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