Überlebenskünstler auf Gratwanderung

Von Gerhard Dilger · · 2004/07

Prekäre Arbeitsverhältnisse sind in Brasilien weit verbreitet. Doch selbst wer viel Zeit hat, lässt sich dies nicht gerne anmerken. Drei Begegnungen Von Gerhard Dilger

Dominosteine krachen auf die Steinplatte. Frotzeleien und Gelächter machen die Runde. Vier Männer mittleren Alters sitzen am Tisch, ein paar weitere verfolgen das Spiel im Stehen. An den beiden Nachbartischen wird Karten gespielt. Die spätherbstlichen Sonnenstrahlen brechen sich an den Fenstern der umliegenden Hochhäuser.
Es ist Freitagnachmittag an der Praça da Alfândega, dem grünen Ruhepol in Porto Alegres Altstadt. Ein paar Schritte weg vom Gewusel der PassantInnen und StraßenverkäuferInnen laden zahlreiche Parkbänke zum Verweilen ein. Ein idealer Ort, um sich zu verabreden, aber auch zum Meditieren oder eben zum Spielen. Auffällig: Nicht nur an den Steintischen am Rande des üppig mit Bäumen bestückten Platzes sind Männer unter sich, Frauen sind nur vereinzelt zu sehen.
Der malandro, die brasilianische Version des Taugenichts, ist ein Bonvivant, gesellig, redegewandt, unzuverlässig, hochstaplerisch, wortbrüchig, heiter, sympathisch, arbeitsscheu, ein Frauenheld … Das Schlawinertum ist eine Haltung, eine Lebensphilosophie, Sinn für Lebensgenuss und Müßiggang … Diese Teildefinition des Berliner Brasilianisten Berthold Zilly* hilft dabei, die hier vorgestellten Männer besser zu verstehen.
Der malandro, der unter dieser Bezeichnung erstmals in der Samba-Lyrik im Rio de Janeiro der 1930er Jahre auftaucht, ist das genaue Gegenteil des Kalvinisten mit seiner protestantischen Arbeitsethik. Der malandro ist ein machista: Er will die Frau oder vielmehr die Frauen ohne Familie und ohne Kinder. Zilly betont aber auch, dass es sich um eine stilisierte, künstliche und imaginäre Figur handelt.

José Torres dos Santos sieht das Leben von der Sonnenseite. „Ich komme hierher, um zu spielen, zu rauchen und zu lachen“, sagt der Mulatte aus dem nordöstlichen Bundesstaat Ceará. Seinen Lebensunterhalt verdient Santos durch den Verkauf von gedrechselten und lackierten Garderobenständern aus seiner Heimat. Vier, fünf setzt er an einem normalen Tag ab, zu einem Stückpreis von acht Euro.
„Ich habe eine Vier-Tage-Woche und immer Zeit für die Dinge, die mir Spaß machen“, zum Beispiel für die „schönen, schlanken Frauen aus dem Süden“, versichert der fliegende Händler augenzwinkernd. Seine Familie im Nordosten besucht er einmal im Jahr, der regelmäßige Kontakt mit Frau und den zwei kleinen Söhnen läuft übers Telefon.
38 Jahre alt ist Santos jetzt und 13 davon unterwegs, zwischen São Paulo und Porto Alegre, aber auch in Argentinien, als die dortige Währung an den Dollar gekoppelt war. Von seinen Kumpanen weiß der gut gelaunte nordestino kaum Privates: „Über unser Leben unterhalten wir uns nie.“
Oft war und ist malandragem Ausdruck einer sozioökonomischen Notwendigkeit, List und Schelmerei im Kampf ums Überleben angesichts eines viel zu engen Arbeitsmarktes.
Und der wird immer noch enger. Auch in Lulas Brasilien wird die „Flexibilisierung“ von Arbeitsverhältnissen forciert, und die sowieso schon prekären staatlichen Sicherungssysteme drohen weiter zusammengestutzt zu werden. Im Mai 2004 hat die Arbeitslosigkeit eine neue Rekordmarke überschritten. Doch die offizielle Quote von 13,1 Prozent in den sechs größten Ballungsgebieten ist nur eine schwache Annäherung an die Wirklichkeit: Über die Hälfte alle BrasilianerInnen ist seit jeher im informellen Sektor tätig, in der so genannten Schattenwirtschaft. Und immer mehr ziehen das Auswandern als Option in Betracht.

Einer der passioniertesten Dominospieler ist Fernando Ahyb Flores. Der 51-Jährige hat schon als Kellner, Krankenpfleger und Anstreicher gearbeitet und beschreibt seine jetzige Lage als „schwierig“. Seine Rente von umgerechnet 250 Euro bessert er durch Gelegenheitsarbeiten auf. „Ich werde nicht gerne bedauert und will auch nicht von irgend jemandem abhängig sein“, sagt er und lässt offen, ob ihn seine drei Geschwister unterstützen, die es allesamt „zu mehr gebracht haben“ als er, weil er als junger Mann „leichtfertig das Studium geschmissen“ hat.
„Ein Vagabund zu sein, das kommt für mich nicht in Frage“, betont Flores ungefragt. Im kommenden Jahr wolle er in Ägypten sein Glück versuchen, der Heimat seiner Mutter – der Onkel eines Freundes sei dort erfolgreicher Fabrikbesitzer. Auch der Neuanfang in einer fremden Kultur schreckt den hageren Mann mit dem wachen Blick, dessen Auslandserfahrungen sich auf Argentinien und Paraguay beschränken, nicht: „Die Sprache lernt man schnell, und wenn es gut läuft, bleibe ich dort“, sagt Flores. Und quasi als Beweis parliert er unvermittelt auf Französisch. Eine Weile später bittet er mich um einen halben Real (knapp 15 Cent), mit dem er sich bei einem Mitspieler einen Becher Zuckerrohrschnaps holt.
Der Idealtypus des malandro aus den 1930er Jahren ist Favela-Bewohner, Samba-Musiker, Mulatte, der einen wiegenden Schritt hat, jede anstrengende und routinehafte Arbeit scheut …
Der Schriftsteller João Antônio (1937-1996) hat die Figur des klassischen malandro in seinen Erzählungen weiterentwickelt und ausdifferenziert. Er enthüllt den illusorischen Charakter des Mythos von der malandragem … da die realen Lebensbedingungen diesem Praxisideal keinen Raum geben. Der malandro hat nicht viel zu lachen.

Adão Torquato hat zwei Berufe: Er ist Musiker – und Wachmann. Samba, Jazz und Blues sind seine Leidenschaft, sein wichtigstes Arbeitsinstrument, so sagt er, ist jedoch die Pistole. Die Praça da Alfândega hat für ihn nichts Idyllisches: Er sieht dort vor allem „Prostituierte, Nichtsnutze, Kriminelle, die töten können, wenn es sein muss“. Dabei deutet er auf zwei Jugendliche, die über den Platz schlendern.
„Als Musiker wirst du nicht anerkannt, auch nicht als Lehrer“, sagt der dunkelhäutige Mann, dem man seine 58 Jahre nicht ansieht, bitter. In den 1970er Jahren wurde Musik als Pflichtfach aus den Lehrplänen gestrichen. „Finanziell hat es einfach nicht mehr gereicht“, erklärt Torquato seinen Wechsel in die Sicherheitsbranche 1984. Zudem habe er aus seiner Militärzeit einschlägige Vorkenntnisse mitgebracht.
Flanieren, die Zeit vertändeln, in den Tag hinein leben – damit will Torquato nichts zu tun haben. Als Wachmann, versichert er, habe er ein gutes Auskommen. Doch in Porto Alegre möchte er nicht bleiben: Sobald er sein Haus verkauft hat, will er nach São Paulo ziehen, wo man mehr verdient. In der Weltstadt hat er die schönsten Jahre seines Lebens verbracht.
„Das ist nur ein Teil der Geschichte“, meint dazu seine alte Freundin Neusa Ribeiro. In Wirklichkeit sei Torquato als Wachmann arbeitslos und von seinem letzten Auftraggeber übers Ohr gehauen worden. Über Wasser halte er sich mit Gelegenheitsarbeiten, vor allem mit Privatstunden als Klavierlehrer. „Mit der Zeit werden solche Geschichten, mit denen man das Gesicht wahren will, zur Gewohnheit. Torquato ist nicht der einzige in einer solchen Situation, der sich selbst etwas vormacht“.
Die ausführlichen Reden ihres Bekannten über die Vorzüge der Sicherheits- und Überwachungsbranche, eine der wenigen krisensicheren in Brasilien, sind für Neusa Ribeiro „aufgesetzt, ein falscher Diskurs“. Damit wolle Torquato, der „mit Leib und Seele“ Musiker sei, „die Scham verbergen, sein angekratztes Selbstbewusstsein aufrichten“.
Auch wenn der Weg, über geregelte Arbeit zu sozialem Aufstieg zu gelangen, in Brasilien nur einer Minderheit offen steht: Die Gleichsetzung von protestantischer Arbeitsethik mit Modernität hat im allgemeinen Bewusstsein triumphiert. Malandro gilt als Beleidigung, der aus Literatur und mündlicher Überlieferung bekannte Antiheld ist schon längst Geschichte.
Zugleich verwenden Millionen Männer wie Santos, Flores und Torquato malandro-Strategien, um in Würde überleben zu können. An ihren Träumen halten sie beharrlich fest, ihre Probleme über-spielen sie mit der Gitarre, mit Domino oder Canasta.

*) Alle Zitate in Kursivschrift stammen aus Zillys Aufsatz „João Antônio und die Dekonstruktion der malandragem“, in: Ligia Chappini/Berthold Zilly (Hrsg.), Brasilien – Land der Vergangenheit?, TFM-Verlag, Frankfurt a. M. 2000. ca. 380 Seiten, ca. EUR 40,-

Gerhard Dilger lebt und arbeitet seit 1999 als freier Journalist in Brasilien. Er ist Korrespondent der Berliner Tageszeitung „taz“ und anderer deutschsprachiger Medien.

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