Seit Jahren versucht die Führung in China, der Korruption Herr zu werden.
Mit wenig Erfolg, weil die Grundprobleme unangetastet bleiben. Die Verfilzungen
laufen quer durch die Gesellschaft, durch Partei, Wirtschaft und Bürokratie.
Peking ließ vor den Feiertagen zum Neuen Jahr des Affen an seinen Autobahneinfahrten riesige Plakatwände aufstellen. Statt für Handys, Kosmetik oder Luxuswagen warben die Tafeln mit dem Bild eines altmodischen Hammers und einer Sichel. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) rief mit dem Uraltsymbol für das Bündnis von Arbeitern und Bauern gegen die Korruption auf und drohte: „Die Werkzeuge der Partei sind noch immer scharf und stark. Sie können Nägel herausziehen und Unkraut niedermähen.“ Hohe Funktionäre, die hinter getönten Scheiben eines Mercedes, BMW oder japanischen Lexus vorbeifuhren, sollen sich über das unzeitgemäße Plakat amüsiert haben.
Schon oft hat Chinas Führung die Partei vor ihrer Selbstzerstörung gewarnt, wenn sie nicht Herrin über die Korruption würde. Ihren drastischen Worten folgten aber nur halbherzige Taten. In den vergangenen 20 Jahren der Marktwirtschaft unter Kontrolle der KPCh nahm das Ausmaß an Korruption sogar noch exponentiell zum Wirtschaftswachstum zu. Auch die Parteipresse spricht vom „Krebsübel der Korruption“.
Chinas BürgerInnen erleben die Korruption hautnah mit. In einer im Januar 2004 veröffentlichten repräsentativen Umfrage beklagen sie die Schmiergeldwirtschaft bei Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Justizstellen, bei Finanzen und Banken, bei den Gesundheitseinrichtungen und der Erziehung. Neue Begriffe tauchen in Chinas Politsprache auf wie „akademische Korruption“, die den Handel mit Titeln bezeichnet, oder „Feiertagskorruption“, bei der Beamte ihre Hand für die eigentlich Kindern zugedachten traditionellen Neujahrs-Geldgeschenke aufhalten.
Unternehmen aus China selbst und aus aller Welt zahlen saftige Prämien und Provisionen für Hilfestellung bei ihrem Markteintritt, für die Umgehung von Steuern und Zoll oder die Vergabe von Staatsaufträgen oder Baugrundstücken. Meist wird direkt ins Ausland gezahlt: Studiengebühren für die Kinder (sarkastisch Prinzlinge genannt) an Eliteuniversitäten, Immobilien oder Unternehmensbeteiligungen oder an Briefkastenfirmen in der Karibik. Große Summen fließen als „legale“ Auslandsinvestitionen wieder ins Reich der Mitte zurück.
Auslandsfirmen verbuchen Schmiergelder unter „Sonderaufwendungen“. Li Bo, der mit 15 Jahren Haft bestrafte Sohn des im Oktober 2003 zum Tod mit Bewährungsaufschub verurteilten Yunnaner Provinzgouverneurs Li Jiating, gestand: Sein Vater hatte einem Immobilienmakler einen Bauauftrag zugeschanzt und dem Hongkonger Händler Yang Rong ermöglicht, Zigaretten zollfrei ins Land zu bringen. Sohn Li Bo bekam eine Wohnung, einen Mercedes, Aufenthaltsrecht in Hongkong und eine Million Euro.
Auf internationalen Korruptionslisten hat China einen herausragenden Platz. Die Parteizeitung „Renmin Ribao“ schätzt die von korrupten FunktionärInnen eingesackte Summe auf 30 Mrd. US-Dollar pro Jahr. SozialforscherInnen und ÖkonomInnen am Zentrum für Chinesische Studien der Universität Qinghua meinen, dass die Folgekosten für die Volkswirtschaft jährlich mehr als 100 Mrd. Dollar oder 15 Prozent des Bruttonationalprodukts betragen.
Auf dem 16. Parteitag im November 2002 trennte sich die KP Chinas wegen Ämtermissbrauchs von fast 140.000 ihrer 65 Millionen Mitglieder. Staatsanwälte ziehen seit Anfang letzten Jahres den Vorhang weiter auf. Nach ihren Statistiken aus elf der 31 Provinzen Chinas (darunter die Südküste Guangdong und die Stadtstaaten Peking und Shanghai) flohen bis Ende 2003 mehr als 5.500 höhere Funktionäre ins Ausland. Sie sollen 500 Millionen Euro mitgenommen haben. Über 700 Parteimitglieder verübten Selbstmord, rund 3.000 tauchten unter.
Allein im Jahr 2003 wurden dreizehn höchste Provinzfunktionäre wegen Korruption entlassen oder zu lebenslanger Haft verurteilt. China lässt seit 2000 auch wieder hohe Funktionäre hinrichten, unter anderem den Vizevorsitzenden des Parlaments Cheng Kejie. Der vierzigjährige Parteisekretär Li Zhen, Leiter der Steuerbehörde der nordchinesischen Provinz Hebei, wurde am 13. November 2003 mit der Giftspritze exekutiert. Er hatte sich von 1992 bis 2000 um rund drei Millionen Euro bereichert. Der hochintelligente Funktionär räumte im Verhör ein, aus Furcht vor seiner persönlichen Zukunft korrupt geworden zu sein: „Das Ende der Sowjetunion hat mich alarmiert. Ich dachte, ich muss mich auch auf das Ende Chinas vorbereiten und handeln, so lange ich die Hand an den Schalthebeln habe.“ Er meinte, „die meisten vor Gericht kommenden Korruptionsfälle werden nicht restlos aufgeklärt, weil unsere politische Führung Angst um die Stabilität hat, wenn alle Zusammenhänge eines Falls aufgedeckt würden“.
An den Gesetzen liegt es nicht. Chinas Bürokratie hat mehr als 2.000 Gesetze und Regeln gegen die Korruption erlassen. Es fehlt an Justizbeamten, Anwälten und Richtern, die die Gesetze umsetzen. Ohne unabhängige Justiz und Presse verlassen sich die Staatsanwälte auf die Denunziation.
Die so genannten „Guanxi“ bieten ein ideales Umfeld für Korruption. Sie verpflichten jeden Chinesen, eine einmal erwiesene Gefälligkeit zu erwidern. Dieses Beziehungssystem prägt die chinesische Gesellschaft seit Jahrhunderten und konstituiert eine eigene moralische Welt. Hinzu kommt, dass Chinas Reformen die totalitäre Herrschaft und die Legitimation von Ideologie und Partei geschwächt und eine Wertekrise hervorgerufen haben. Die Trennlinien zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Belangen, Eigentumsverfügung und Interessen sind vage und undefiniert. Deshalb sind unter den Hauptnutznießern der Korruption hohe Funktionäre und ihre Familien.
Kein Wunder, dass die besten Absichten der heutigen Parteiführung keine Abhilfe schaffen. Bao Tong, ein Dissident, der einst Büroleiter beim 1989 über die Ereignisse des 4. Juni (Ereignisse vom Tienanmen) gestürzten Premier Zhao Ziyang war, sagt voraus, dass auch Chinas neuester Antikorruptionskampagne kein Erfolg beschieden sein wird. „Die Wurzeln der wildwuchernden Korruption liegen im Einparteiensystem und in fehlender Demokratie.“ Daran ändert sich auch nichts, wenn die Partei auf Plakaten mit Hammer und Sichel droht.
Johnny Erling ist seit Jahren Korrespondent einiger europäischer Zeitungen, darunter Der Standard, in Peking.