Tunesien verliert die Hoffnung

Von Richard Solder · ·
Mohamed Wajdi Aydi ist Rechtsanwalt am Höchstgericht in Tunesien, Doktor der Staatswissenschaften in Öffentlichem Recht und Internationalen Beziehungen sowie Dozent für Geopolitik an der Universität Sfax und Experte für lokale Regierungsführung und Migration. Er war von 2012 bis 2017 sowie 2018 bis 2023 stellvertretender Bürgermeister der Küstenstadt Sfax und ist Koordinator der Migrationsakteure in Sfax. Foto: Suedwind_Vincent Sufiyan

Die „Abwehr“ von Geflüchteten für Europa, ein zunehmend autoritärer Präsident – das Südwind-Magazin interviewte den tunesischen Politologen und Migrationsexperten Mohamed Wajdi Aydi über die besorgniserregende Entwicklung.

Brennpunkt Tunesien: Das nordafrikanische Land spielt eine wichtige Rolle bei Migration nach Europa, die meisten Migrant:innen kommen aus Westafrika. Währenddessen ist die politische Lage im Land brisant: Präsident Kais Saied, seit 2019 gewählter Präsident, fährt einem zunehmenden autokratischen Kurs: Er lässt Oppositionelle verhaften und entließ gewählte Bürgermeister:innen. Zudem lässt er ein rigoroses Vorgehen tunesischer Sicherheitskräfte gegen Migrant:innen zu.
Dabei galt Tunesien lange als beispielhaft für eine positive Entwicklung, nachdem im Zuge des „Arabischen Frühlings“ 2011 die Langzeitdiktatur unter Zine El Abidine Ben Ali abgeschüttelt werden konnte.

Sehen Sie die EU in Sachen Migration als einen konstruktiven Partner von Tunesien an?

Den europäischen Staaten geht es darum, Migration zu stoppen, alles andere interessiert sie nicht. Es werden Lösungen gefunden, die keine sind.
Die tunesische Regierung kommuniziert diese Abmachungen im Land nicht konkret, viel ist unklar.
Was man zudem sagen muss: Die offizielle Politik beider Seiten kümmert die humane Ebene der Migration nicht, oder die Gründe, warum sich Menschen auf den Weg machen müssen. Es geht auch nie darum, legale, sichere Möglichkeiten für Migration zu finden.

„Warum lassen wir die Leute sterben?“

Dementsprechend sieht die Migrationspolitik in Tunesien aus?

Die Mehrheit der Expert:innen meint, dass es in Tunesien keine Migrationspolitik gibt, und keine Vision.

Was wäre Ihre Vision für Migrationspolitik?

Man sollte das Phänomen verstehen und sich die Frage stellen, warum junge Leute gefährliche Routen nehmen. Warum lassen wir die Leute sterben, die migrieren? Wenn man wollte, könnte man sie retten. Wäre der Wille da, gäbe es Lösungen.
Migration ist einfach eine natürliche Sache, Mobilität kann man nicht stoppen. Sie kann aber organisiert werden. Auf lokaler Ebene in Sfax (Hafenstadt im Osten des Landes, Anm. d. Red.) haben wir Initiativen gestartet, die geholfen habe. Etwa junge Menschen in Kooperation mit Partner:innen in Europa Praktika vermittelt. Das hat gut funktioniert.

„Die neue Freiheit wurde schlecht gemanagt“

Wie sehen Sie die aktuelle politische Situation in Tunesien?

Die ist sehr kompliziert. Die Bewegung 2011 wird von der Bevölkerung als Aufstand und Aufbruch gesehen, mit dem viele Hoffnungen und Erwartungen verbunden wurden. Viele von diesen konnten aber nicht verwirklicht werden. Die neue Freiheit wurde sozusagen schlecht gemanagt.
Tunesien hat nicht geschafft, eine Demokratie zu etablieren. Politiker:innen der „alten Garde“ wurden wieder zurückgeholt. Damit ging verloren, was 2011 erreicht worden war. So argumentiert auch der jetzige Präsident Kais Saied. Seine Antwort auf das Ganze ist aktuell das Vorgehen gegen Parteien und Parlament.

Wie gefährlich ist die Situation, Stichwort Diktatur?

Wenn ein Präsident kommt und Regeln ändert, ohne die Menschen dazu zu befragen bzw. wenn er  diese Regeln einfach mit einer eigenen Kommission einführt, dann ist er autoritär. Die höchsten Oppositionellen sitzen regelmäßig im Gefängnis und werden damit bedroht, erhängt zu werden. Daher: Die Situation ist sehr gefährlich.

„Die EU hat nie die Zivilgesellschaft unterstützt.“

Die tunesische Zivilgesellschaft und die politischen Akteure abseits der Parteien gelten als stark, vor allem im Vergleich zu anderen in Ländern des sogenannten Arabischen Frühlings. 2015 hat das Nationale Dialog-Quartett – Arbeiterbund UGTT, Verband für Industrie, Handel und Handwerk Utica, die Menschenrechtsliga LTDH sowie die Rechtsanwaltskammer – den Friedensnobelpreis bekommen. Wieso konnte sie die jetzige schwierige Lage nicht verhindern?

Die Akteure haben vermittelt, haben versucht einzuwirken in Momenten, in denen Eskalationen gedroht haben. Warum nicht mehr gelungen ist: weil sie parteiisch geworden sind. Die Rechtsanwaltskammer etwa ist selbst politisch aktiv geworden, der Chef ins aktuelle Parlament gewählt worden.

Hätte die EU Tunesien besser zur Seite stehen können in den vergangenen Jahren?

Die EU hat sich schon eingemischt. Aber sie hat nie die Zivilgesellschaft unterstützt oder begleitet. Sie ist nicht klar in ihrer Position.

Interview: Richard Solder, Übersetzung: Téclaire Ngo Tam
Mitarbeit: Viggo Wittek

Nachlesen: Bereits 2016 warnte die tunesische Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine im Südwind-Magazin-Interview: „Wenn international, etwa von Europa, jetzt nicht mehr Unterstützung kommt, dann verlieren wir womöglich unseren Kampf für Demokratie.“

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