Kleine Geschichten, bei denen man schmunzeln oder sich ereifern kann, eignen sich manchmal dazu, das politische Spannungsfeld einer Gesellschaft zu zeichnen. Die Schmierenkomödie in der zentralanatolischen Kleinstadt Sütcüler in der Provinz Isparta im April dieses Jahres gehört zu diesen kleinen Geschichten. Der dem Innenministerium unterstehende Landrat, Mustafa Altinpinar, ein Ex-Polizist, wollte seiner Beamtenkarriere Gutes tun und ein Exempel statuieren. Als Gegner erkor er den berühmten Romancier Orhan Pamuk. Die öffentlichen Bibliotheken der Stadt wurden angewiesen, Bücher von Pamuk aus ihrem Bestand zu entfernen und zu „vernichten“. Als Begründung führte der Landrat an, der Schriftsteller habe in Interviews mit ausländischen Zeitungen die „Ehre der türkischen Nation verletzt“. Die Zerstörung der Bücher gehöre zum „Selbstverteidigungsrecht der türkischen Nation“. Zuvor war der Schriftsteller hart mit der politischen Kultur in der Türkei zu Gericht gegangen, als er in einem Interview mit dem Zürcher Tagesanzeiger sagte: „Man hat hier 30.000 Kurden umgebracht und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen.“ Die türkischen Nationalisten, insbesondere AnhängerInnen der Partei der nationalen Bewegung (MHP), reagierten mit einer Hetzkampagne gegen den Autor. Pamuk erhielt Schmähbriefe und sogar Morddrohungen. Er wurde als „Vaterlandsverräter“ gebrandmarkt.
Die türkischen Medien wurden Austragungsort einer erbitterten Debatte. Es gab viel Kritik an Pamuks Äußerungen. Doch war auch die Zahl derer nicht zu unterschätzen, die in Kolumnen und Kommentaren Partei für ihn ergriffen. Im Streit um die eigene Geschichte bildeten sich klare Fronten zwischen Nationalisten und demokratischen Reformern. In diese Kontroverse platzte die Nachricht von der Anordnung des Landrats, der in den Medien alsbald als „Bücherverbrennungsbeamter“ tituliert werden sollte. Ein Skandal war ausgebrochen und die Empörung groß. Der Gouverneur von Isparta hob formell die Anordnung auf und sprach von Amtsanmaßung. Das Innenministerium leitete ein Ermittlungsverfahren gegen den übereifrigen Landrat ein. Und selbst die Nationalisten, die Orhan Pamuk in Grund und Boden verdammt hatten, wollten nicht mit Bücherverbrennern in einen Topf geworfen werden.
Eine solche Debatte wäre noch vor einem Jahrzehnt undenkbar gewesen. Systematische Folter, Repression gegen die kurdische Minderheit und eine fragile Ökonomie mit horrenden Inflationsraten waren die Schlagworte, unter denen die Türkei wahrgenommen wurde. Der Romancier Yasar Kemal stand Mitte der 1990er Jahre auf verlorenem Posten, als er die Praktiken des Staates bei der Bekämpfung der kurdischen Guerilla anprangerte. Seine Anklagen erschienen in ausländischen Medien, und er hatte nicht die geringste Chance, seine Ansichten im Land kundzutun. Orhan Pamuk erging es im Jahr 2005 besser, sein Anstoß wurde aufgegriffen. Die auflagenstärkste Zeitung des Landes „Hürriyet“ brachte eine mehrtägige Serie über die Ereignisse des Jahres 1915. Darin kamen auch türkische und armenische Historiker zu Wort, die die Massaker an den Armeniern als Völkermord einordnen.
Das Ende der bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse in den kurdischen Regionen, die demokratischen Reformen der vergangenen Jahre und hohe Wachstumsraten der Wirtschaft haben das gesellschaftspolitische Klima im Land verändert. Traditionell sah man in der türkischen Politik innere Konflikte stets als Ergebnis des Einflusses ausländischer Mächte. Ging es um Islamisierung der Gesellschaft, waren schnell Schuldige gefunden: Der Iran oder Saudi-Arabien mischten klammheimlich in türkischer Politik mit. Oder es hieß, die USA versuchten, der laizistischen Türkei einen in Washington entworfenen „gemäßigten Islam“ überzustülpen. Ging es um den kurdischen Konflikt, waren auch ausländische Mächte am Werk, die die Stärke der Türkei untergraben und das Land zerstückeln wollten. Diese Wahrnehmung wurzelte nicht zuletzt in den Entstehungsbedingungen der türkischen Republik, die nach dem Ersten Weltkrieg auf den Trümmern des Osmanischen Reiches gegründet wurde. Dessen Zerfall hatten europäische Mächte aktiv gefördert, indem sie sezessionistische Nationalismen unterstützten. Der Friedensvertrag von Sèvres im Jahr 1920 ist noch heute für die TürkInnen ein Schreckgespenst. Damals diktierten die europäischen Siegermächte einen Vertrag, mit dem sie Kleinasien nach eigenen Interessen aufteilten. Der Westen der heutigen Türkei wäre an Griechenland gekommen, im Osten wären ein armenischer und ein kurdischer Staat entstanden. Nur Zentralanatolien wäre türkisches Territorium geblieben. Der erfolgreiche Widerstand gegen die ausländische Invasion und die Nationalbewegung unter Mustafa Kemal, dem später der Beiname Atatürk, Vater der Türken, gegeben wurde, werden heute in Schulbüchern heroisiert. 1923, nach Beendigung des griechisch-türkischen Krieges, wurden mit dem Friedensvertrag von Lausanne die Grenzen der türkischen Republik festgelegt und die Entwicklung eines bürgerlichen Nationalstaates eingeleitet.
Mehr als 80 Jahre nach Gründung der Republik haben sich die Grundkoordinaten internationaler Politik entscheidend verändert. Doch bis heute nährt sich der türkische Nationalismus aus ideologischen Versatzstücken, die dieser Entstehungsgeschichte entlehnt sind.
Die europäische Perspektive der Türkei und die demokratischen Reformen, die seit dem Machtantritt der islamisch-konservativen „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) Anfang 2003 zum Zuge kamen und im Dezember vergangenen Jahres den Weg für die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union ebneten, haben das politische Interpretationsmonopol des Nationalismus in Frage gestellt. Nach Jahrzehnten einer repressiven Politik gegenüber den KurdInnen, die selbst die Existenz des kurdischen Volkes und der kurdischen Sprache in Frage stellte, merkt man heute, dass die neue Liberalität keineswegs die Verfassungsordnung der Republik bedroht. Sie stürzt vielmehr diejenigen, die den bewaffneten Kampf gegen den Staat weiterführen wollen, in Legitimationsprobleme. Die Bedeutung des radikalen Wandels der türkischen Zypern-Politik ist kaum wahrgenommen worden. Als die Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im vergangenen Jahr die Friedensbemühungen des UN-Generalsekretärs unterstützte und sich für den UN-Friedensplan für die geteilte Insel aussprach, wusste sie die Mehrheit der türkischen Bevölkerung auf ihrer Seite. Vor wenigen Jahren noch wäre eine Regierung, die Kompromisse in der Zypern-Frage eingeht, des Vaterlandsverrates bezichtigt worden. Selbst die Folgen lieferten den Nationalisten keine Nahrung: Die Mehrheit der türkischen ZypriotInnen stimmten in einem Referendum für den UN-Friedensplan, die griechischen ZypriotInnen votierten mit „Nein“, blockierten eine Lösung und wurden trotz ihres Alleinvertretungsanspruches Mitglied der EU. Auch die Abschaffung der Todesstrafe mehrere Jahre zuvor, als der Führer der kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, bereits auf der Gefängnisinsel Imrali einsaß, rief keinen nennenswerten faschistischen Protest hervor.
Seit dem Militärputsch 1980 ist die türkische Gesellschaft nicht zur Ruhe gekommen. Das politische Regime, das die Militärs errichteten und das institutionell durch die Verfassung von 1982 abgesichert wurde, meinte, ein uniformes nationalistisches Gesellschaftsmodell formen zu können. Die großen Feindbilder – Kommunismus, kurdischer Sezessionismus und politischer Islam – wurden ständig gepflegt. Der zentralistische Staat versuchte, jedwede politische Regung der Gesellschaft zu ersticken. Die „kommunistische Gefahr“ löste sich durch den Gang der Weltpolitik in Luft auf, von Sezessionismus sprechen heute selbst radikale Kurdenführer nicht mehr, und diejenigen, die einst den politischen Islam verkörperten, sitzen heute in der Regierung. Das Gesellschaftsmodell, das die Generäle sich einst ausgedacht hatten, ist spätestens nach dem Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 zur anachronistischen Farce verkommen.
Es gehört zu den Skurrilitäten der türkischen Geschichte, dass ein einst islamistischer Politiker wie Erdogan in seinem Wahlkampf eine ausgesprochen prowestliche, europafreundliche Programmatik angepriesen hat. Bei den Wahlen eroberte sich die Partei die bürgerliche Mitte. PolitikerInnen aus den einst etablierten bürgerlichen Parteien sitzen heute für die AKP im Parlament, und nur eine Minderheit der WählerInnen ist dem politischen Islam zuzurechnen. Die Bevölkerung wählte die AKP nicht, weil sie die Chance auf einen Gottesstaat witterte, sondern weil sie korrupte PolitikerInnen satt hatte. Teile der Wählerschaft und Funktionäre der AKP mögen fromm sein, doch sie sind nicht daran interessiert, eine religiöse Ordnung in der Politik zu errichten. Ihnen geht es um Steuerpolitik und Energiepreise, um Intervention bei wirtschaftlichen Verteilungskämpfen. Kemalistische Grundsätze, wie die Trennung von Staat und Religion, das Wahlrecht für Frauen, bürgerliche Rechtsnormen im öffentlichen und privaten Recht, wie sie in den 1920er und 1930er Jahren vom Staat oktroyiert wurden, gehören zur Alltagsrealität. Kein Politiker der AKP würde heute auf die Idee kommen, statt auf dem Standesamt vor einem Imam zu heiraten. Was heute geschieht, könnte als Normalisierungsprozess begriffen werden, der den Islam als kulturelles Momentum in die Gesellschaft integriert.
Normalisierung bedeutet auch, dass ethnische oder religiöse Identität nicht mehr allein die politische Orientierung bestimmt. Reiche KurdInnen wählen anders als arme KurdInnen. Nicht von ungefähr wurden kurdische Frauenorganisationen, die Männergewalt thematisieren, nach dem Ende des Krieges stärker. Im Feuergefecht zwischen Regierungsarmee und PKK hätten sie keine Chance gehabt. Das Erstarken der Zivilgesellschaft in den vergangenen Jahren ist unter anderem auch der politischen Deeskalation geschuldet. Auch die Aufwertung der Kommunen und die Zurückdrängung der Kompetenzen der Zentralregierung wird von der Regierungspartei in Angriff genommen. Früher witterte man bei der Abtretung von Macht an regionale Entscheidungsträger Gefahr für die Einheit der Nation. Die demokratischen Reformen der letzten Jahre haben gezeigt, dass ein Ende des repressiven Staates nicht zwangsläufig zum Auseinanderdriften der türkischen Gesellschaft entlang religiöser oder ethnischer Linien führt. Das Projekt Europa hat innenpolitisch die Konsensbildung gefördert und nationalistische Abwege isoliert.