Der Bürgerkrieg in Nicaragua ist seit sechzehn Jahren vorbei. Für das schnelllebige Gedächtnis im Informationszeitalter ist er bereits Geschichte. Für die Weltöffentlichkeit ist das Land befriedet und mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Für die indigene Miskito-Bevölkerung in der nördlichen Atlantikregion ist der Krieg jedoch nicht zu Ende. „Grisi siknes“ heißt eine Art Massenhysterie, die vor allem junge Frauen und Männer erfasst. Der Name ist kreolisch für „crazy sickness“ – verrückte Krankheit. Die Betroffenen haben identische Albträume, fangen plötzlich an zu laufen und um sich zu schlagen. Was genau dieses Leiden auslöst, ist nicht erwiesen. Doch hat die Ethnologin Gerhild Trübswasser in einer Studie Zusammenhänge aufgezeigt: Die Krankheit tritt vor allem in Dörfern auf, die schwer vom Krieg betroffen waren, wo Menschen zwangsweise umgesiedelt wurden, die Männer zum Teil für die sandinistische Armee, zum Teil für die Kontra kämpfen mussten und heute wieder Tür an Tür leben, ohne darüber zu sprechen. Ihr Gewaltpotenzial ist hoch, viele Frauen und Mädchen werden von ihren Verwandten, Nachbarn vergewaltigt. Auch darüber spricht niemand.
Das Erscheinungsbild der „grisi siknes“ mag uns fremd erscheinen, doch das zugrunde liegende Muster taucht zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt auf: Jahre, nachdem ein Krieg zu Ende ist, leiden Menschen an den Folgen, an den Traumata – den Wunden – die das Geschehene hinterlassen hat. Sie müssen nicht immer auf den ersten Blick als unmittelbare Folgen erkennbar sein. „Wir haben uns dem Thema Trauma über unsere Gesundheitsprojekte angenähert“, erklärt Thomas Vogel. Er ist Projektreferent für Nicaragua bei Horizont 3000, der größten österreichischen Organisation mit Personaleinsätzen für Entwicklungszusammenarbeit. Zwar sind die Projekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung, ländliche Entwicklung und Gender angesiedelt. Doch kommt, wer ernsthaft an den Problemen einer Gesellschaft interessiert ist, nicht daran vorbei, sich mit ihren Wunden – den kollektiven und den individuellen – zu befassen. „Die Themen Frieden und Gewalt sind schwer zu bearbeiten“, so Vogel, „wenn man das Thema Trauma nicht im Hinterkopf hat.“
Diese Einsicht gewinnt im Entwicklungsbereich wie in der Menschenrechtsarbeit, in der Asylbetreuung und in Frauenorganisationen mehr und mehr an Bedeutung. Die meisten Hilfsorganisationen haben – spätestens seit der Tsunami-Katastrophe – Programme zur Traumabewältigung laufen. Und in der zukünftigen Leitlinie der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit Österreichs für den Bereich Friedenssicherung und Konfliktprävention sind psychologische und soziale Reintegrationsmaßnahmen als Schwerpunkt definiert. Dazu gehören explizit auch Projekte der Traumaarbeit.
Was konkret im Bereich Traumabewältigung geschieht, ist von recht unterschiedlicher Qualität und Tiefe. Manche Organisationen haben sich darauf spezialisiert, etwa die internationale NGO medica mondiale, die traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten unterstützt. Bei manch anderen Projekten gewinnt man den Eindruck, dass zur Traumabewältigung munter drauflos gezeichnet und Theater gespielt wird, das Wissen um die tatsächliche menschliche, gesellschaftliche und politische Dimension von Leid, das zum Beispiel durch andere Menschen absichtsvoll verursacht wurde, aber wenig fundiert ist.
Dass Gewalt Spuren hinterlässt, Wunden in der Seele, die schwer oder gar nicht heilen, ist ein Wissen wohl so alt wie das menschliche Bewusstsein selbst. Über Jahrhunderte hinweg hat das Wissen und die Rede vom Trauma zwischenmenschlicher Gewalt eher in der Kunst, in Mythen, Märchen und in Religion und Spiritualität Ausdruck gefunden – jenen Bereichen also, die sich traditionell mit der Seele befassten.
Relativ jung hingegen ist die medizinisch-empirische Forschung zum Konzept und Krankheitsbild des psychischen Traumas. Sie beginnt mit den Anfängen der Psychoanalyse, als mit der Säkularisierung Europas ein neuer Zugang zu der von den Humanwissenschaften nunmehr als solche definierten „Psyche“ möglich wird.
Die ersten Fallstudien wurden an Überlebenden von Eisenbahnunfällen betrieben, anhand der Beobachtung von Hysterie – einer Krankheitserscheinung, die zur Jahrhundertwende wie keine andere das aufgeklärte, intellektuelle Europa beschäftigte – sowie der Kriegsneurosen, unter denen zahlreiche Soldaten des Ersten Weltkriegs litten. Wie den weiblichen Hysterikerinnen unterstellte man auch den Soldaten, sie würden ihre Symptome simulieren. Es sollte noch mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, bis die Bewegung der Vietnam-Veteranen in den USA 1980 die offizielle Anerkennung der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS – siehe Kasten) durchsetzt. Genauso lange sollte es dauern, bis die Frauenbewegung in den 1970er und 1980er-Jahren den Umfang und die Folgen der Schädigung ins öffentliche Bewusstsein bringt, die vorwiegend Frauen und Mädchen durch sexuelle und häusliche Gewalt in der Familie erfahren.
Die Geschichte der Traumaforschung war immer eng mit politischen Bewegungen verbunden, wie die US-amerikanische Ärztin und Feministin Judith Herman in ihrem Grundlagenwerk „Die Narben der Gewalt“ aufzeigt.
Heute genießt der Begriff „Trauma“ hohe Konjunktur. Kaum ein Fernsehkrimi, der nicht von einem traumatisierten Opfer zu berichten weiß, dem seit der Ermordung eines Angehörigen, seit der Vergewaltigung oder einer anderen Gewalterfahrung ein Teil seiner Erinnerung fehlt, der in Flashbacks und Albträumen wieder auftaucht. Meist „löst“ sich das Trauma, wenn die betroffene Person mit einer ähnlichen Situation konfrontiert wird oder wieder an den Ort des Verbrechens kommt. Was hier vermittelt wird, ist Populärwissen zu einem sehr komplexen psychischen Dilemma.
In der psychologischen Fachsprache heißt das Wieder-Erinnern der traumatischen Situation „Trauma-Exposition“ und ist Teil der Therapie.
Wir dürfen uns traumatische Erinnerungen nicht wie die Erinnerung an ein schreckliches Ereignis vorstellen. Traumatisch ist eine Erinnerung dann, wenn ein Geschehen zu schrecklich war, als dass es in Worte gefasst und erinnert werden könnte. Die zugrunde liegende Erfahrung ist Ohnmacht, Hilflosigkeit und Überwältigung. „Traumatisierte Überlebende“, schreibt der Analytiker Dori Laub, der vor allem mit Überlebenden des Holocaust wie auch des Bosnien-Kriegs gearbeitet hat, „leben nicht mit Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern mit einem Erlebnis, das nicht völlig verarbeitet werden konnte und deshalb nicht abgeschlossen ist und kein Ende hat. Es ragt in die Gegenwart hinein und ist in jeder Hinsicht in ihr präsent.“
Auslösend für ein Trauma ist, wenn eine Situation subjektiv als unentrinnbar eingeschätzt wird. Das kann ein einmaliges Ereignis sein, das kann aber auch eine lang andauernde Situation wie Gefangenschaft, Hunger, Rassismus, Krieg oder häusliche Gewalt sein. Im psychosozialen Bereich ist daher eher von Traumatisierung anstelle von Trauma die Rede. Gemeint ist damit nicht schlicht eine Sammlung von psychischen und körperlichen Symptomen, wie sie in der Diagnose der PTBS beschrieben sind. Traumatisierung bezieht auch den politischen, sozialen und lebensgeschichtlichen Kontext vor, während und nach der Gewalterfahrung mit ein.
Wenn Gewalt oder so genannte Man-made Disaster – also von Menschen verursachte Katastrophen – der Auslöser sind, gelten eigene Regeln. Opfer von Naturkatastrophen oder Unfällen können eher Mitgefühl erwarten als Opfer von Gewalt, vom Spendenaufkommen bis hin zu Gesprächen am Wirtshaustisch. Überlebende von Gewalt werden häufig gemieden, ausgestoßen oder lächerlich gemacht.
Esther Mujawayo, Überlebende des Völkermords in Ruanda, weiß in ihrem Buch „Ein Leben mehr“ (siehe auch Auszug nächste Seite) ein Lied davon zu singen: Sie und andere spürten, dass sie störten. Überlebende stören den Wiederaufbau. Durch ihre bloße Gegenwart erinnern sie an das Unfassbare, wecken unangenehme Gefühle von Scham, stören das Vergessen.
Ob es sich um Überlebende des Holocaust, um vergewaltigte Frauen oder Menschen handelt, die vor Verfolgung und Gewalt geflohen sind und um Asyl ansuchen: Die erwartbare Reaktion ist nicht Mitgefühl, sondern Abgrenzung durch Zuschreibungen wie „selbst schuld“ oder „der simuliert doch nur“.
Überlebende von Gewalt haben in der psycho-medizinischen Traumaforschung eine Sprache und einen Raum gefunden, wo sich ihre Schädigung ausdrücken kann, wo sie Namen und Begriffe erhält und das Nicht-Sagbare ein Stück weit sagbar und somit realer wird. Gleichzeitig geht damit immer die Gefahr der Pathologisierung einher. Der aktuelle Fokus auf psychisches Trauma ist also ein zweischneidiges Schwert. Deutlich wird dies in einem Erlebnis, das Mujawayo beschreibt.
Die ruandische Soziologin hatte unmittelbar nach der Befreiung des Landes aus der Macht der Milizen wieder bei der britischen Entwicklungsorganisation Oxfam gearbeitet. In guter Absicht schickten ihre Arbeitgeber sie und andere einheimische KollegInnen zu Psychotherapeuten, in der Meinung, sie müssten durch die durchlebten Traumata völlig aus der Bahn geworfen sein. Doch, so Mujawayo, „sie wollten sich unsere Traumata nur in der Form schildern lassen, auf die sie vorbereitet waren“. Ihr war es dabei fast peinlich zu sagen, sie schlafe gut und habe keine Albträume. Der Grund dafür war, dass sie sich nach den Monaten der Verfolgung und äußersten Todesgefahr in die Arbeit bei Oxfam stürzte und gleichzeitig alle Hebel daran setzte, nach Überlebenden zu suchen. Nachts fiel sie völlig erschöpft ins Bett und schlief traumlos bis zum Morgen. Sie und viele ihrer LeidensgenossInnen machte die Psychologisierung, die Aufforderung, sich mit dem Trauma zu beschäftigen, rasend. Sie hatten zu der Zeit andere Bedürfnisse, die sie auch konkret formulierten: „Einen Jeep, mehr verlangen wir doch gar nicht, mit dem fahren wir alle Lager ab und suchen nach überlebenden Verwandten. Das wird uns heilen!“ Doch ein Leihwagen war als heilende Maßnahme im psychologischen Programm nicht vorgesehen.
„Oft wird weder wahrgenommen noch anerkannt, welche Leistung es ist, überlebt zu haben, und dass einem Individuum zunächst dafür Respekt zu zollen ist“, schreibt Monika Hauser, Gründerin von medica mondiale. Dieser Respekt verlangt auch, Traumatisierung nie allein als Krankheit zu sehen und zu behandeln. „Trauma healing“, wie es bei Hilfsorganisationen, Kirche u.a. derzeit hoch im Kurs steht, kann nicht gelingen, wenn nicht auch die politische, juristische und kulturelle Dimension berücksichtigt wird. Alexandra Rossberg, Therapeutin für Extremtraumatisierte und Herausgeberin des Buchs „Das Schweigen brechen“ geht so weit zu sagen, die gesellschaftliche Anerkennung des persönlichen Leids sei die wirksamste Therapie. Das erlittene Unrecht muss auch in anderer Form aufgearbeitet, benannt und verurteilt werden. Es braucht die Unterstützung in Justiz, Medien, Gesellschaft. Eine Traumatisierung zu behandeln verlangt ein Umfeld, in dem die Wahrheit des Geschehenen anerkannt ist.