Traum oder Albtraum

Von Lindsay Collen · · 2004/10

„Manchmal ist es ein Albtraum, manchmal ein Traum, wenn ich an die Welt in 25 Jahren denke.“

Würde sich alles in der Welt geradlinig entwickeln, Schritt um Schritt vorhersagbar, nach der mechanischen Logik einer Maschine, dann wäre die Welt in 25 Jahren eine Hölle: Jedes menschliche Bestreben würde nur noch daran bemessen, ob es sich auf dem Weltmarkt „verkauft“ – oder nicht; jede menschliche Empfindung hätte einen Preis, ob „Liebe“ oder „Mitgefühl“, und würde an die Meistbietenden verkauft; jede menschliche Hoffnung wäre von einer Schicht Zynismus überzogen, so dick, dass sie darunter verschwinden würde; jedes menschliche Miteinander wäre zerbrochen, aufgesplittert in die individuelle Gier des Ego; die Losung „anpassen oder untergehen“ wäre bereits verwirklicht.
Würde sich alles in der Welt geradlinig entwickeln, Schritt um Schritt vorhersagbar, nach der mechanischen Logik einer Maschine, dann würden sie im Internationalen Währungsfonds in 25 Jahren selbstgefällig lächeln, während Menschen an Hunger sterben („Es ist unvermeidlich!“, würden sie, weiter lächelnd, weise zu bedenken geben); in der Weltbank würden sie lachen, während die Armen ärmer werden („Der Fortschritt muss weitergehen, nicht wahr?“), und in der Welthandelsorganisation sich prustend auf die Schenkel klopfen, während Menschen sogar den Zugang zu den Produkten der Natur und ihres eigenen Verstandes verlören wie etwa zum Saatgut (während das geistige Eigentum der multinationalen Unternehmen geschützt wäre als etwas Heiliges). Und quietschvergnügt würden sie festhalten, dass Wundermittel das Leben der Menschen nicht retten könnten – nein, lasst sie sterben – auch von Kranken müsse man Geld verlangen. Natürlich. Niemand schuldet euch etwas, würden sie sagen. Da steckt Forschungsarbeit drin. Ihr müsst zahlen.
Das ist der Albtraum.
Aber nichts in der Welt ist – oder war jemals – geradlinig.
Es gibt die Dialektik.
Es gibt das unvermeidliche Wiedererstehen des Ganzen. Nicht nur voneinander getrennte Teile. Sondern das Leben in seiner Ganzheit. Wie meine Nachbarin Leila, die ihre Rezepte weitergibt, gratis. An jeden und jede. Und „Story-Tellers“ erzählen ihre Geschichten ohne jede Eintrittsgebühr.
Und dann gibt es ohnehin die Konflikte zwischen den herrschenden Mächten, um damit zu beginnen. Dinge, die sie gegeneinander aufbringen – Handelskriege und Wettbewerb. Irrationale Wirtschaftskrisen, als Nächstes, für sie. Krieg und Unfrieden. Und dann Umweltkrisen, wenn Luft und Wasser knapp werden, für das Endspiel. Für sie.
Während auf unserer Seite Menschen darauf bestehen, zu schenken, einfach so. Meine Freundin Jane pflanzt Blumen, damit jeder und jede ihren Duft genießen kann. Und sie massiert Leute, die hundemüde sind, gratis.
Das sind wir.
Und wir teilen miteinander.
Und auf ihrer Seite gibt es die hohle Macht des herrschenden Kaisers, seine zerbrechliche Stärke, gleich wer es ist, ob Bush oder jemand anderer. Krümelwerk.
Und ebenso wichtig, es gibt das trotzige Widerstehen der menschlichen Rebellion, ihre Weigerung, zu verschwinden, gleich, wie weit der Sieg der Menschen entfernt zu sein scheint. Menschen lieben die Freiheit. Und sie rebellieren. Und ob wir das tun!
Und es gibt die Aufstände der Unterdrückten, unvermeidlich und unbezähmbar, gleich, wie dauerhaft unsere Niederlage auch geschienen haben mag.
Und es gibt die Kreativität.
Und die Gemeinschaft.
Und die Liebe.
Lindsay Collen ist Schriftstellerin und Gewerkschaftsaktivistin. Sie wurde 1948 in Südafrika geboren, engagierte sich in der Anti-Apartheid-Bewegung und lebt heute auf Mauritius.
Drei ihrer bisher fünf Romane sind auf deutsch erschienen:
„Sita und die Gewalt“
(Rowohlt 1997, vergriffen); „Die Wellen von Mauritius“ (Rowohlt 1998, vergriffen); „Lebenstanz“ (Lamuv 1999).
Zwischen und unter Menschen. Die Neugier. Die Zuneigung. Der einfache menschliche Anstand. Der Wille, zu teilen. Der Wunsch, anderen nahe zu sein. Die Leidenschaft für Gleichheit. Die Liebe zur Menschheit. Wie Johan etwa. Er will nicht Chef eines multinationalen Unternehmens sein. Und alle anderen, die sich weigern, wie Tiere im Zoo gegeneinander anzutreten.
Und einige von ihnen organisieren Revolutionen statt dessen.
Statt dessen.
Das ist der Traum. Es gab die französische Revolution, die amerikanische, die englische, und dann die russische. Und die mexikanische und die chinesische. Und die kubanische.
Die Sehnsucht der Menschen.
Warum sind nur vergangene Revolutionen glorreich?
Warum sorgen nur vergangene Revolutionen für Träume?
Und für die Liebe zum Leben?
Es hängt von uns ab. Oder etwa nicht?
Traum oder Albtraum? Abwarten, wer als nächster träumen kann?

Übersetzung aus dem Englischen: Robert Poth

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