Tödliche Baumwolle

Von Richard Swift · · 2007/06

Eine tragische Selbstmordwelle erschüttert das Baumwollanbaugebiet von Vidarbha im Osten Maharashtras. Eine Reportage von NI-Redakteur Richard Swift.

Wie üblich war der Bruder von Ravinder Ksan Piwar um fünf Uhr nachmittags nach Hause gekommen, um die elektrische Pumpe einzuschalten. Denn nur zu dieser Zeit kann man sich in Chalbardi, einem Dorf im Osten des indischen Bundesstaats Maharashtra, darauf verlassen, dass es auch tatsächlich Strom gibt. Der 23-jährige Ravinder stand vorne übergebeugt da, hielt sich den Magen und würgte. Er hatte eine tödliche Dosis des Pestizids geschluckt, das er für die Baumwolle auf den vier Hektar Land seiner Eltern gekauft hatte. Von dieser Baumwolle hing seine Existenz und die fünf anderer Menschen ab – seiner Großeltern, seines jüngeren Bruders und zweier Schwestern.
Ravinder hatte ein im Grunde heiteres Gemüt, zumindest war das der Eindruck, den mir sein Großvater vermittelte, als ich mit ihm vor dem baufälligen Haus der Familie in Chalbardi sprach. Er hatte sich zwar Sorgen gemacht, denn das Überleben einer Kleinbauernfamilie hier im Baumwollgürtel von Vidarbha ist alles andere als gesichert. Aber Anzeichen, dass Ravinder derart drastische Schritte ins Auge fasste, hatte es keine gegeben. Im Gespräch mit mir suchte die Familie nach Gründen für seine letzte, unwiderrufliche Entscheidung: Der Brunnen war eingestürzt; ungewöhnlich starke Regenfälle hatten beinahe die Hälfte der Baumwolle weggeschwemmt; er war in Sorge über seine Heiratschancen.
Aber der Hintergrund war ebenso ausschlaggebend. Jeden Tag war er zum Baumwollmarkt im nahe gelegenen Pandharkawada gefahren. Selbst wenn er, was selten vorkam, geöffnet war, wurde keine Baumwolle verkauft oder nur unter den Herstellungskosten, sogar unter dem Garantiepreis der Regierung. Was er mit dem Verkauf seiner bereits dezimierten Ernte hätte verdienen können, hätte bei weitem nicht ausgereicht, um seine Schulden für die Agrochemikalien und das Bt-Saatgut (siehe Fakten, S. 34) zu begleichen. Schließlich lag die geerntete Baumwolle stapelweise im Haus, ohne dass jemand versucht hätte, sie zum Markt zu bringen. „Ich habe meine Hände verloren“, klagte Ravinders Großvater, das Gesicht durchzogen von Furchen des Schmerzes. Die unausgesprochene Frage, die diesen hoch gewachsenen, würdevollen Mann quälte: „Wie werden wir fünf Hinterbliebenen nun überleben?“
Der Selbstmord Ravinders war kein Einzelfall. Zwei andere Bauern im Dorf hatten sich ebenfalls das Leben genommen; in den letzten Jahren waren es tausende Baumwollbauern in Vidarbha, die ebenso endeten. Der Selbstmord, ein an sich persönlicher Akt, wurde damit zu einem sozialen Phänomen – ein Phänomen, das überall im ländlichen Indien verheerenden Schaden anrichtet. Immer mehr bestimmt der Weltmarkt die Preise landwirtschaftlicher Produkte, und die BäuerInnen, gezwungen, sich für den Kauf von Saatgut und Agrochemikalien zu verschulden, beginnen zu verzweifeln.

Paradoxerweise häuften sich die Selbstmorde gerade in einigen der besten Landwirtschaftsregionen – im Reisanbaugebiet östlich von Vidarbha, im Weizengürtel des Punjab oder unter Kaffeebauern in Kerala. Die Selbstmorde begannen unter Baumwollbauern, und unter ihnen sind sie weiterhin am häufigsten. Am schlimmsten ist die Lage im trockenen Baumwollgebiet von Vidarbha, wo eine Gruppe engagierter AktivistInnen eine Art „Selbstmord-Watchlist“ führt, inklusive einer makabren Landkarte mit Markierungen in Form von Totenschädeln.
Nagpur ist die Hauptstadt der Region, und hier treffe ich Jaideep Hardikar. Hardikar hat hunderte Bauern interviewt und ist dabei, ein Buch über die Selbstmorde zu schreiben. Er stammt aus Vidarbha und fühlt sich den 25 Millionen Menschen dort eng verbunden. „Hier hat eine Massendepression um sich gegriffen. Armut war in diesem Land stets alltäglich, aber niemand brachte sich um. Es ist nicht die Armut, sondern die Verschuldung, die einem Bauern das Leben zur Last werden lässt.“ Mühsam beherrscht er seinen Zorn und seine Frustration: „Letztes Jahr [2005] berichtete ich, dass es alle 36 Stunden einen Selbstmord gegeben hatte. Dann waren es nur mehr 24. Dann 12. Und jetzt sind es 8. Das sind drei Selbstmorde pro Tag.“
Die Ursachen sind für Jaideep kein Rätsel. „In Vidarbhan gibt es 1,8 Millionen Haushalte, die Baumwolle anbauen. In den USA gibt es 25.000 Baumwollfarmer. Ohne die Subventionen, die sie bekommen – die den Weltmarktpreis für Baumwolle drücken –, würde der Preis auf 4.500 bis 5.000 Rupien für 100kg steigen. Effiziente indische Baumwollbauern könnten bei einem Preis von 3.500 Rupien problemlos konkurrieren. Heute bekommt ein Bauer aber weniger als 2.000 Rupien, und es ist unmöglich, mit acht Hektar Land 10.000 Rupien pro Jahr zu verdienen. Das sind etwa 200 US-Dollar für die ganze Familie.“
Während ich durch die staubigen Dörfer Vidarbhas wanderte, traten mir die Ursachen der Selbstmorde immer klarer vor Augen. Mir war nicht ganz wohl dabei, Menschen zu solchen tragischen Zeiten darauf anzusprechen. Aber tatsächlich wurde ich von Menschen, die jeden Grund gehabt hätten, mir zu sagen, ich sollte mich zum Teufel scheren, stets mit Tee und Höflichkeit empfangen. Offenbar erleichterte es sie, wenn sie jemandem ihre Geschichte erzählen konnten.

Jedenfalls war das beim Vater von Bravin Vijay Bakamwar der Fall. Die Bakamwars leben im Dorf Sunna. Der 26-jährige Bravin war gerade sechs Monate verheiratet gewesen, als er am 25. November 2006 früh aufstand, mit seinem neuen (unbezahlten) Motorrad in die Felder fuhr und sich an einem Strommasten erhängte. Bravin war sowohl bei Geldverleihern als auch bei der Genossenschaftsbank hoch verschuldet. Ein Kredit für eine Brunnenbohrung, die erfolglos war. Die bekannten Baumwollpreise. Er hatte nicht nur für seine junge Frau zu sorgen, sondern auch für seine Eltern und Geschwister. Er war in eine Zwickmühle zwischen den Verpflichtungen des „alten“, ländlichen Indien und den Verlockungen seiner modernen Variante geraten, repräsentiert durch sein Motorrad. Er musste zum Schluss gekommen sein, dass er keinem von beiden gerecht werden konnte.
Bei manchen Besuchen in einem „Selbstmord-Dorf“ kommt man nur mit der Familie und nahen Verwandten ins Gespräch. In anderen Fällen ist man bald von vielen Bäuerinnen und Bauern umringt. Alle reden drauflos (zumindest die Männer), wollen einem unbedingt ihre Lage erklären. Einmal entwickelte sich dabei eine lebhafte Diskussion über ihre allgemeine Situation. Das klang in etwa so: „Die Bt-Baumwolle hat uns ruiniert. Unsere Kosten sind eskaliert, und die Erträge sind tatsächlich gesunken. Nächstes Jahr werden wir auf Bt verzichten … Unter den Briten war alles viel besser. Könnten wir hier für die Briten stimmen, würden sie gewinnen … Früher haben wir alles, was wir brauchten, selbst hergestellt. Geld leihen, das gab es nicht. Die ausländische Technologie hat uns in die Verschuldung getrieben. Jetzt können wir nicht einmal mehr pari aussteigen … Und was ist mit den Politikern? Von denen bringt sich keiner um. Das machen nur wir … Die Regierung sollte uns besser gleich bombardieren, das wäre eine effektivere Methode, uns los zu werden … Die Landwirtschaftsberater kamen früher von der Regierung, und die verstanden etwas von der Sache. Heute kommen sie von den Unternehmen, und das sind nur Händler, die können bloß Geld zählen.“
Worauf die BäuerInnen immer wieder zurück kamen, war eine Frage: Warum können die Politiker und die Leute von den Unternehmen nicht verstehen, dass am Ende alle, auch sie selbst, vom Land leben müssen? Manchmal fielen sie sich gegenseitig ins Wort, aber sie hörten auch zu, und nickten zustimmend. Auch wenn sich die Mühsal ihres Lebens auf ihren Gesichtern eingeprägt hatte, war doch ein gewisser Stolz auf ihr Land und ihr Bauerntum zu verspüren.

Ich reiste Richtung Norden, nach Gujarat, um mich über das Schicksal der dortigen Baumwollbauern zu informieren. Ironischerweise sind BäuerInnen, die als weniger „modern“ gelten, besser dran. In Rangpur, einem eher abgelegenen Gebiet drei Autostunden von Baroda, nahe der Grenze zu Madhya Pradesh, hat fast jeder Bauer sein Baumwollfeld, aber nur nebenbei, um Geld zu verdienen. Ansonsten gibt es Mangos, Chilis, Rizinusbohnen, Auberginen, Tomaten, Mais und Reis, Strauch- und Kichererbsen, manches davon zur Selbstversorgung, anderes wie die Baumwolle als Geldquelle.
Selbstmorde in Zusammenhang mit der Landwirtschaft sind hier praktisch unbekannt. Warum, frage ich Sunhi Machhi, den Landwirtschaftsfachmann, der die Bäuerinnen und Bauern hier berät. Und er kommt gleich zum Punkt: „Diese Bauern (in Vidarbha) sind ausschließlich von der Baumwolle abhängig. Geht das schief, gibt es gewaltigen Stress und einen Haufen Schulden. Hier bauen die Bauern ihre eigene Nahrungsmittel an, Baumwolle nur auf dem übrigen Land, daher taucht das Problem hier nicht auf.“

Nach Regierungsangaben kam es in den letzten zehn Jahren in ganz Indien zu rund 150.000 Selbstmorden von Bauern. Das Phänomen beschränkt sich zwar nicht auf Baumwollbauern, begann aber unter ihnen und setzt sich auch unter ihnen fort. Die Reaktionen auf die Selbstmorde reichen von Scham über Verleugnung bis zu ihrer Funktionalisierung. Für das Schamgefühl sorgen die Medien (insbesondere die lokalen), AktivistInnen und NGOs. Die Bauern und Bäuerinnen gelten im Grunde immer noch als Rückgrat des Landes. Die Baumwolle nimmt einen „Ehrenplatz“ ein, wegen ihrer langen, illustren Geschichte und weil sie von Gandhi als Symbol des Unabhängigkeitskampfes benutzt wurde. Die Situation wird als „nationaler Skandal“ aufgefasst – zumindest von einigen.
Zu Verleugnung kommt es einerseits auf offizieller Ebene, wo das Ausmaß der Tode heruntergespielt wird. Kavitha Karuganti vom Centre for Sustainable Agriculture in Hyderabad sieht darin auch einen Ausdruck einer neuen Entwicklungsstrategie, wonach die Landwirtschaft für den High-Tech-Sektor und die Industrieexporte geopfert werden soll. Den „technokratischen Realismus“, den sie in zahllosen Regierungsdokumenten identifiziert, kommentiert sie äußerst sarkastisch: „Diese Leute betrachten Selbstmorde wahrscheinlich als legitime ‚Exit-Strategie‘ aus der Landwirtschaft.“ Inoffiziell wiederum kursieren Phantasien über einen unter Bauern verbreiteten Alkoholismus und angebliche Versuche, sich (großteils nicht vorhandene) Pfründe der Regierung zu sichern; schließlich wird behauptet, die Selbstmorde hätten nicht wirklich mit der Landwirtschaft zu tun.
Ihre Funktionalisierung erscheint darin, dass die Selbstmorde gegen den politischen Gegner eingesetzt werden, solange man sich in Opposition befindet, um dann ignoriert zu werden, wenn man an die Macht gelangt ist.

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