Tiger im Käfig der Politik

Von Anna Neugebauer · · 2008/05

Vietnams städtische Zentren erleben einen rasanten Modernisierungsprozess, die Wirtschaft wächst kräftig, doch in der Politik wird versucht, sozialistische Traditionen aufrecht zu erhalten.

Ho-Chi-Minh-Stadt empfängt den Besuchenden mit lautem Willkommensgetöse. Ein Klangteppich aus Mopedhupen und Auspufflärm umfängt den Reisenden und lässt ihn erst wieder los, wenn er der Stadt den Rücken kehrt.
Geschätzte zwei Millionen Mopeds füllen die Straßen der vietnamesischen Wirtschaftsmetropole. Sie sind Zeichen einer neuen Zeit, in der das Rad und der traditionelle konische Hut von motorisierten Zweirädern made in Korea und von Baseballcaps abgelöst werden.
In Ho-Chi-Minh-Stadt, ehemals Saigon, leben über fünf Millionen Menschen, im gesamten Verwaltungsgebiet sogar über sechs Millionen. Die Stadt hat sich in den letzten Jahren zu einem Industriezentrum entwickelt – etwa zwei Drittel des gesamten Bruttoinlandsproduktes (BIP) und 80 Prozent der Steuereinnahmen werden hier erwirtschaftet. Dieser Boom spiegelt sich in der städtischen Bevölkerung wider: Noch vor acht Jahren benutzte nur jeder zehnte Städter ein Mobiltelefon – inzwischen telefoniert jeder zweite mobil. Das Stadtbild ist geprägt von jungen Menschen mit Handys am Ohr, sie tragen „Coffee to go“ vor sich her oder sitzen in Grüppchen in den vielen neuen Einkaufszentren nach US-amerikanischem Vorbild. Man tritt selbstbewusst auf und es scheint, als seien sich die jungen Erwachsenen ihrer zahlenmäßigen Übermacht bewusst: Von den 83 Millionen VietnamesInnen sind 40% jünger als 20, zwei Drittel unter 30 Jahre alt. In dieser Atmosphäre des Fortschritts wirken die allgegenwärtigen Plakate mit dem Konterfei von „Onkel Ho“ wie ein Gruß aus der Vergangenheit. Auch die „Volksbelehrungen“ aus den vielen über die ganze Stadt verteilten Lautsprechern passen nicht recht in die Umgebung. Sie rufen zum Zusammenhalt des vietnamesischen Volkes auf, erinnern an das Impfen der Haustiere oder raten zum Tragen eines Helmes beim Moped-Fahren.

Dynamische Wirtschaftsentwicklung: Bereits 1954 hatte Ho Chi Minh prophezeit, dass sein Land irgendwann jeder internationalen Wirtschaftsorganisation beitreten werde. Heute ist Vietnam mit einem Wirtschaftswachstum von über acht Prozent nach China die schnellstwachsende Volkswirtschaft der Region und mittlerweile zweitgrößter Kaffee- und Reisexporteur der Welt. Basis dieser Entwicklung ist die 1990 beschlossene Öffnung der Märkte. Die Reform, genannt „Doi Moi“ (Erneuerung des Denkens), der schwere Hungersnöte vorausgingen, löste die kontrollierte Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild ab. Die marktwirtschaftliche Liberalisierung wurde seitdem von der kommunistischen Einheitspartei weiter beschleunigt. In den letzten Jahren wurde ein Drittel der 6.000 Staatsunternehmen privatisiert. Diese Betriebe sind nach wie vor ein substanzieller Teil der Wirtschaft, tragen sie doch 39% zum BIP und 40% zum gesamten industriellen Output bei.
Der Spagat zwischen einer entfesselten wettbewerbsorientierten Wirtschaft und dem Versuch, sozialistische Traditionen beizubehalten, wird aber immer schwieriger. Die Staatsgewerkschaft ist mit der Herausforderung der Gestaltung der neuen Arbeitsverhältnisse konfrontiert. Vor allem in der Privatwirtschaft und in dem für ein Viertel aller Exporte verantwortlichen Schlüsselsektor, der Textil-, Schuh- und Bekleidungsindustrie, herrschen prekäre Arbeitsbedingungen, auf die die ArbeiterInnen zunehmend mit Streiks reagieren. So gingen Ende November 2007 mehr als 10.000 Beschäftigte einer südvietnamesischen Schuhfabrik auf die Straße, um gegen die schlechten Arbeitsverhältnisse zu protestieren. Sie forderten Urlaubs- und Krankengeld, mehr Lohn sowie eine bessere Nahrungsmittelversorgung am Arbeitsplatz.
Die Löhne entsprechen kaum den in den letzen Jahren stark gestiegenen Lebenshaltungskosten, die Wochenarbeitszeit wurde in vielen Betrieben gesetzeswidrig von 40 auf 70 Stunden in der Woche verlängert. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurden in Vietnam in den vergangenen Jahren insgesamt über 1.000 Streiks organisiert. Ein Großteil davon war jedoch nach herrschendem Recht illegal, da nur die Staatsgewerkschaften zum Streik aufrufen dürfen. In den von ausländischen Investoren betriebenen Produktionsstätten sind gewerkschaftliche Organisationen jedoch nicht erlaubt.
Politik der Stagnation: Von seiner Villa in Hanoi aus schickt „der Alte“ immer noch Anweisungen an seine Nachfolger an der Parteispitze. General Vo Nguyen Giap lebt 95-jährig als Nationalheld im Ruhestand sehr zurückgezogen, kann es aber nicht lassen, auf aktuelle Entscheidungen der Partei Einfluss zu nehmen. Der politische Zustand des Landes scheint von wirtschaftlicher Öffnung und zunehmender Internationalisierung seltsam unberührt.
Wie der große Nachbar China wird Vietnam von einer kommunistischen Einheitspartei regiert. Wie in China hat der wirtschaftliche Transformationsprozess zu keiner nachhaltigen Demokratisierung geführt. Der absolute Herrschaftsanspruch der KP ist seit 1980 verfassungsrechtlich festgeschrieben. Die vom Zentralkomitee der Partei beschlossenen Gesetzgebungs- und Personalentscheidungen werden von der halbjährlich tagenden Nationalversammlung bestätigt. Auch wenn die Regierung die letzten Wahlen als „Meilenstein der Demokratie“ feiert, gibt es de facto keine freien Wahlen. Bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2007 wurde die KP mit 91% der Stimmen in die Nationalversammlung gewählt.

Schon Monate vor den Wahlen hatten die Festnahmen von DissidentInnen zugenommen. Die kommunistische Regierung rechtfertigte die Verhaftungswelle mit deren angeblichen „Umsturzabsichten“. So wurden etwa zwanzig Personen, die verdächtigt wurden, Flugblätter zu verteilen, wegen „illegaler Propaganda gegen die sozialistische Republik“ zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Fehlende Gewaltenteilung und eine dem Parteiapparat untergeordnete Justiz lassen die Korruption blühen und gedeihen. Nach Angaben von Transparency International ist Vietnam das zweitkorrupteste Land Südostasiens. Mächtige Provinzverwalter ohne echte politische Kontrolle nutzen ihr Mandat zur persönlichen Bereicherung. In jüngster Zeit wurden parteiinterne Kontrollen jedoch intensiviert, da die politische Führung um ihren Ruf bei ausländischen Investoren fürchtet. In öffentlichen Prozessen wurden hochrangige Funktionäre wegen Korruptionsdelikten verurteilt.

Die Verbreitung absoluter Armut konnte seit der wirtschaftlichen Öffnung von 70% der Bevölkerung auf etwa 40% reduziert werden. Dies bedeutet jedoch, dass immer noch 37 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben. Überproportional davon betroffen sind ethnische Minderheiten, die etwa 13% der Bevölkerung ausmachen.
Eine Ursache dieses Gefälles ist die Konzentration der Industriezentren auf das Mekong-Gebiet, was zu einer starken geographischen und sozialen Segregation führt. Auch die landwirtschaftlich ertragreichsten Gebiete liegen im dicht besiedelten Mekong-Delta.
Auch wenn die Bedeutung des landwirtschaftlichen Sektors im Sinken begriffen ist – der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Personen betrug 1998 noch 46,3%, 2005 nur mehr 20,5% -, für einen großen Teil der Bevölkerung ist er immer noch Lebensgrundlage. Diese wird durch die zunehmende Umweltverschmutzung jedoch gefährdet.
Die rasante wirtschaftliche Entwicklung führt zu einer massiven Verschmutzung von Wasser, Luft und Boden. Die Abwanderung aus den armen Provinzen in die wirtschaftlich prosperierenden Regionen verschärft die Umweltproblematik, da die kommunale Abwasser- und Abfallentsorgung überlastet oder überhaupt nicht vorhanden ist. Der Mekong dient für Industrie und AnwohnerInnen als Müllabfuhr, Waschmaschine, Verkehrsader und Marktplatz. Die exzessive Nutzung des Gewässers bringt die einzigartige Biodiversität des Flusses in Gefahr. Zahlreiche Tiere stehen bereits auf der Liste der gefährdeten Arten.
Die große Herausforderung der Zukunft für die politische Elite Vietnams heißt „Nachhaltigkeit“. Denn die exzessive Ausbeutung von Mensch und Natur birgt Risiken. Politische Instabilität und ökologische Katastrophen gefolgt von Ressourcenengpässen könnten dem Wirtschaftsboom des jüngsten asiatischen Tigers ein rasches Ende bereiten.

Anna Neugebauer ist freie Journalistin und lebt in Wien. Sie hat in den letzten Jahren Vietnam, Thailand und Kambodscha bereist.

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