„Tiefsitzende strukturelle Probleme“

Von Redaktion · · 2012/04

Klaus Pähler, 64 Jahre alt, leitet seit mehr als sechs Jahren die Konrad-Adenauer-Stiftung in Abuja. Mit ihm sprach für das Südwind-Magazin Katrin Gänsler über die aktuellen Probleme der nigerianischen Regierung.

Südwind-Magazin: Vor einem Jahr wurde mit Goodluck Jonathan zum ersten Mal ein Christ aus dem Nigerdelta zum Präsidenten gewählt. Von Anfang an gilt der Mann mit dem Hut als politisch schwach. Hat er nicht genügend Macht, um in Nigeria durchzugreifen?
Klaus Pähler:
Theoretisch hat ein nigerianischer Präsident sehr viel Macht. Er ist direkt vom Volk gewählt und kann nur unter sehr engen Voraussetzungen abgesetzt werden. Er hat das Oberkommando über die Streitkräfte, ist Staatsoberhaupt und Regierungschef. Aber dann kommt die politische Wirklichkeit hinzu. Um in das Amt zu gelangen, braucht man Kontakte, Beziehungen und Unterstützer. Ein so gewählter Präsident ist seiner Klientel gegenüber verpflichtet und kann nicht so frei agieren wie er gerne möchte.

Gilt das auch im Umgang mit der islamistischen Sekte Boko Haram? Die Regierung wirkt so, als wisse sie gar nicht, wer sich hinter der Gruppe verbirgt.
Das kann so sein. Es ist aber auch möglich, dass alles verschleiert wird. Es gibt Nigerianer, die mir sagen: Die Regierung weiß genau, wer dahinter steckt. Sie kann nur nicht gegen diese Leute vorgehen, weil es wichtige und mächtige Menschen sind, die den politischen Betrieb in Nigeria mitfinanzieren.

In welchen anderen Bereichen wirkt die nigerianische Regierung ebenfalls eher tatenlos?
Sie hat bislang nichts Nachhaltiges gegen die schlechte Energieversorgung getan. Sie versucht zwar, neue Energiekapazitäten zu schaffen, aber das ist teuer. Bis diese ans Netz gehen werden, dürfte mehr Zeit vergehen, als Präsident Goodluck Jonathan hat, um die Bevölkerung zu überzeugen, dass er das Land voran bringen wird.

Nigeria hat unlängst Schlagzeilen wegen seines Bevölkerungswachstums gemacht. Schätzungen zufolge leben schon heute zwischen 150 und 160 Millionen Menschen im Land. In 100 Jahren könnten es 700 Millionen sein. Welche Herausforderungen sind damit verbunden?
Manche Statistiken sprechen schon heute von bis zu 40 Millionen jungen arbeitslosen Menschen. Unter ihnen ist niemand nur deshalb arbeitslos, weil die Wirtschaft momentan in der Krise steckt. Viele sind dauerhaft und strukturell arbeitslos, zum Beispiel Analphabeten, und für sie gibt es keine Chancen am Arbeitsmarkt, außer vielleicht in Steinbrüchen oder ähnlichem. Dieses Problem wird das Land in den nächsten 30 bis 40 Jahren mit sich herumschleppen. Auch die nachwachsenden Generationen werden nicht vernünftig ausgebildet. Es ist wahrscheinlich die größte Zeitbombe, mit der Nigeria kämpft.

Anfang des Jahres sah es so aus, als ob sich die Bevölkerung plötzlich gegen die schlechten Lebensbedingungen aufbäumte: Ein tagelanger Generalstreik legte das Land lahm. Wie kam es dazu?
Die Regierung hatte sich entschlossen, kurzfristig die Benzinpreis-Subventionen fallen zu lassen. Der Preis hat sich mehr als verdoppelt. Das schlägt sich auf alle anderen Kosten nieder, wovon Menschen mit geringem Einkommen besonders betroffen sind. Die Staatsmacht hat es mit dieser Maßnahme geschafft, Christen und Muslime, Hausa, Yoruba und Ibo gegen sich zu einigen. Bisher war die Regierung in der aus ihrer Sicht glücklichen Lage, ein zerstrittenes und zersplittertes Land zu haben. Denn einen gemeinsamen Buhmann, wie früher etwa Mubarak in Ägypten, gibt es in Nigeria nicht. Aus meiner Sicht war das Land am Rande des Abgrunds. Der Rückzug der Regierung ist ein sicherer Hinweis dafür, dass man sich verkalkuliert hatte.

Wie hat sich das auf das Ansehen der Regierung ausgewirkt?
Man vertraut der Regierung nicht mehr. Mit der Benzinpreiserhöhung sollten rund acht Milliarden US-Dollar eingenommen werden. Doch hier glaubt niemand, dass das Geld in Infrastruktur, öffentliche Verkehrsmittel, Krankenhäuser und Schulen geflossen wäre. Man glaubt eher, dass das Geld wie so viele andere Gelder auch verschwunden wäre.

Wenn der soziale Unmut doch so groß ist, warum kämpfen die Nigerianer unabhängig von ethnischer und religiöser Zugehörigkeit nicht weiter gemeinsam für bessere Lebensbedingungen?
Ich kann mir vorstellen, dass sich die großen Gruppen gegen etwas einigen lassen. Ob man sie aber für etwas einigen kann, ist eine ganz andere Frage. Bei den Konflikten in Nigeria handelt es sich um tief sitzende strukturelle Probleme. Die alten Grabenkämpfe werden weiter geführt, weil zu viele aus ihnen persönlichen Nutzen ziehen möchten. Aus meiner Sicht ist daher die nationale Einheit noch nicht dauerhaft gesichert.

Katrin Gänsler ist Korrespondentin mehrerer deutschsprachiger Medien. Sie lebt in Lagos, Nigeria und Cotonou, Benin.

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