Gerechtigkeit als Fairness
Den größten Einfluss auf die heutige Auffassung von Gleichheit übt John Rawls aus. Seine „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) war ein Sprungbrett für andere, damit zusammenhängende Theorien und Gegenentwürfe. Seine Theorie „Gerechtigkeit ist Fairness“ beruht auf der Idee, dass jedeR gleiches Recht auf möglichst umfassende Grundfreiheiten hat. Darin inkludiert er Chancengleichheit. Aber er geht weiter, indem er sagt, soziale oder ökonomische Ungleichheit sei nur gerechtfertigt, wenn sich daraus Vorteile für die Unterprivilegierten ergeben. Das ist sein berühmtes „Prinzip der Unterscheidung“.
Egalitarismus: Prioritäten
Viele Menschen, die sich für EgalitaristInnen halten, sind das nur in eingeschränkter Weise. Für sie hat eine Verbesserung der Situation der am schlechtesten Gestellten Vorrang. Die Person mit einem dringenderen Bedürfnis hat Vorrang vor einer Person mit einem weniger dringenden Bedürfnis. Laut dem Philosophen Thomas Nagel ist ein System egalitär, wenn es „den Bedürfnissen jener Vorrang einräumt, die sich aufgrund ihrer allgemeinen Lebensaussichten auf der sozialen Leiter ganz unten befinden“.
Sind die Bedürfnisse dieser Menschen befriedigt, kommen Verbesserungen für die etwas besser Gestellten an die Reihe und so weiter. Es kommt nicht auf die Zahl der begünstigten Menschen oder das Ausmaß der Begünstigung an.
Nutzenmaximierung
UtilitaristInnen meinen, dass Umverteilung nicht Minderheiten bevorzugen, sondern sich am Ziel des größten Nutzens der höchsten Zahl orientieren sollte. Aus dieser Sicht ist es sinnlos, wenn mehr Menschen auf Vorteile zugunsten weniger verzichten, bloß weil der Nutzen für die wenigen größer ist. Utilitarismus ist daher eine Art der Mehrheitsherrschaft, auch wenn das schlecht für Minderheiten sein kann. Moderne Wohlstandstheoretiker wie R.M. Hare argumentieren aber auch, dass eine Umverteilung von Reichtum Ungleichheit reduziere und allgemeinen „Nutzen“ schaffe („Glück“), indem sie den Neid reduziere.
Libertäre Theorie
An der Ungleichheit gibt es nichts zu kritisieren, sagt Robert Nozick, einer der prominenten „libertären“ Denker mit Nähe zum heutigen „Neoliberalismus“. Ungleichheit ist natürlich, unvermeidlich und kann sogar positiv sein – als Anreiz zu Ehrgeiz, Wettbewerb und Erfolgsstreben. Aber politische Maßnahmen zur Herbeiführung von Gleichheit sind schädlich: Sie gefährden die Freiheit und die Rechte des Einzelnen, bestrafen den Erfolg und führen zu einer generellen „Herunternivellierung“ der Gesellschaft. Nozick argumentiert für einen „Nachtwächterstaat“, der sich auf die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung beschränkt. Steuererhebung ist das Äquivalent von Zwangsarbeit, meint Nozick. Seine Ideen waren ziemlich einflussreich – vor allem in den USA.
Verwirklichungschancen
„Gleichheit wovon?“, fragt der Ökonom Amartya Sen. Seine Antwort: Gleichheit der „Fähigkeiten zur Ausübung von Funktionen“. Es geht darum, Verhältnisse zu schaffen, unter denen Menschen die von ihnen bevorzugten Funktionen ausüben, sie verwirklichen können. Diese Fähigkeiten werden aufgrund der Vielfältigkeit der Menschen und ihrer Erfahrungen zwangsweise unterschiedlich sein und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Aber stets wird es um die selben Grundelemente gehen: die Fähigkeit, ein Leben normaler Länge zu führen; physische Gesundheit und Unversehrtheit; Freizügigkeit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit etc. Materielle Ressourcen sind dabei nur ein Element unter vielen.
Marxismus
Aus marxistischer Sicht ist der Kapitalismus mit Gleichheit unvereinbar, weil er auf der Ausbeutung der ArbeiterInnen zur Erzielung eines Mehrwerts bzw. Profits beruht. Allerdings glauben seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur wenige, dass es eine realistische sozioökonomische Alternative zum Kapitalismus gibt. Marxisten wie Gerald Cohen und Alex Callinicos räumen widerstrebend ein, dass derzeit allenfalls eine „sozialistische Marktwirtschaft“ denkbar wäre. Diese würde das kollektive Eigentum an den Produktionsmitteln mit der „angenommenen Überlegenheit des Markts bei der effizienten Allokation von Ressourcen“ kombinieren. Radikale Denker dieser Tradition wie Philippe Van Parijs meinen, Arbeit sollte zu gleichen Teilen aufgeteilt und alle sollten bezahlt werden, ob sie Arbeit haben oder nicht.
Differenz
Iris Marion Young stößt sich am „abstrakten Universalismus“, der ihrer Meinung nach liberale Auffassungen von Gleichheit weitgehend prägt. Deren Annahmen sind solche der dominanten Gruppe und „blind gegenüber Differenz“: Langfristige Auswirkungen der Unterdrückung von Frauen, ethnischen Minderheiten, Schwulen etc. werden nicht zur Kenntnis genommen. Assimilation ist jedoch nicht der Weg zur Gleichheit: Diese lässt sich am ehesten zwischen Gruppen verwirklichen, die sich in sozialer und kultureller Hinsicht unterscheiden, sofern sie ihre jeweiligen Eigenarten anerkennen und respektieren. Young und andere befürworten eine politischen Repräsentation von Gruppen und gruppenorientierte Politiken. Gruppen könnten ein Veto gegen bestimmte Maßnahmen einlegen, die sie direkt betreffen. Derartige „multikulturelle“ Ansätze werden von Liberalen wie Brain Barry kritisiert, die auf universelle egalitäre Grundsätze bestehen.