Eine Maschinengewehrsalve zerreißt die Stille der üppig bewachsenen Hügellandschaft. Nur kurz schaut Salima auf, bevor sie sich wieder ihrem Holzofen zuwendet. Nach 60 Jahren Tauziehen um ihren bergigen Landstrich zwischen pakistanischer Armee, örtlichen Separatisten und dem indischen Sicherheitsapparat haben sich die BewohnerInnen des nordindischen Bundesstaates Jammu & Kaschmir an den Klang des Krieges gewöhnt. Es ist März, und die Familie von Salima Begum steckt mitten im Frühjahrsputz.
Als Salima vor genau einem Jahr den steilen Pfad zu ihrem Lehmhaus hochstieg, hatte der lange Arm der Gewalt jedoch auch ihre Familie in den Würgegriff genommen. Zwischen dem dichten Geäst der prächtigen Platanen war gerade noch der dunkelgrüne Tata-Geländewagen der indischen Armee zu sehen, wie er in Richtung Tal davonsaust. Im Hausinneren fand sie die Einrichtung verwüstet vor – und ihren Hund, der mit gebrochenem Hinterbein in der Ecke lag. Von ihrem Mann fehlte jede Spur.
Während ich an gleicher Stelle ein Jahr später mit einem Glas Tee sitze und auf den noch immer humpelnden Hund blicke, schildert mir Salimas Bruder Bashir, umringt von NachbarInnenn, die mich neugierig beäugen, die Geschichte aufs Neue. Neben mir sitzt Feroz, Salimas Mann, der nach einer Odyssee quer durch indische Militärcamps, Polizeistationen und zwei Gefängnisse vor wenigen Wochen nach Hause zurückgekehrt ist. Ihm wurde vorgeworfen, vorbeiziehenden militanten Gruppen Nahrung und Unterschlupf gewährt zu haben – Grund genug für den örtlichen Kommandanten der gefürchteten SOG (Special Operations Group), ihn damals kurzerhand aus seinem Haus zu entführen und wochenlang in einem Verließ angekettet schmoren zu lassen. Elektroschocks, stundenlanges Aufhängen an den Handgelenken, vorgetäuschte Exekutionen und andere Foltern haben nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele zerstört. Feroz spricht kaum mehr.
In Srinagar, der Hauptstadt von Jammu & Kaschmir, fernab des Lärms der Maschinengewehre, hört man ganz andere Töne. Als ich wenige Tage zuvor einer Pressekonferenz des indischen Außenministeriums zum Annäherungsprozess mit dem ungeliebten Nachbarn Pakistan beiwohnte, versicherte der smarte Sprecher in perfektem Oxford-Englisch den anwesenden JournalistInnen, dass die von Premierminister Manmohan Singh ausgerufene Devise der „Null-Toleranz“ gegenüber Menschenrechtsverletzungen auch weiterhin Bestand habe. Seit dem Beinahe-Krieg der beiden Atommächte 2003 haben verschiedene hochrangige Treffen eine merkliche Entspannung im Tonfall herbeigeführt. Jedoch gerade diese versöhnliche Atmosphäre hat die Gewaltspirale in Kaschmir nach oben gedreht; eine Einigung in einem der ältesten noch andauernden Konflikte der Welt scheint nicht im Interesse derer zu liegen, die vom Krieg profitieren.
Die Pressekonferenz war kurzfristig anberaumt worden, nachdem im Frühjahr in der Nähe von Srinagar Massengräber gefunden wurden. Als der Skandal nicht mehr vertuscht werden konnte und es sich herausstellte, dass es sich bei den Toten um Bauern wie Feroz handelte und nicht um pakistanische Terroristen wie von den indischen Sicherheitskräften zunächst behauptet, mussten zwei örtliche Polizisten als Sündenböcke herhalten und ihre Posten räumen. Erpressung, Folter und außergerichtliche Exekutionen gehören in Jammu & Kaschmir weiterhin zum Alltag, resümiert ein aktueller Bericht von Human Rights Watch. Die Sicherheitschefs brüsten sich mit Festnahmen angeblicher Terroristen und fahren hübsche Vergünstigungen ein, ärgert sich Iftikar Geelani, ein regimekritischer Journalist in Srinagar.
Währenddessen reiben sich Pakistans radikale Fraktionen die Hände. Im Propagandakrieg beruht ihre Argumentation seit Jahren darauf, dass Indien in Kaschmir Staatsterrorismus betreibe. Für Pakistans islamische Rechte wäre eine Einigung Islamabads und Neu-Delhis in der Kaschmir-Frage eine Katastrophe, könnte sie doch den Untergang der mächtigen Jihad-Organisationen wie LeT (Lashkar-e Tayba), Al-Badr oder Jaish-e Mohammadi bedeuten. Aus Sicht der LeT ist der Disput zwischen Pakistan und Indien nichts Geringeres als ein Aufeinandertreffen zwei sich ausschließender Ideologien, des Islam und der Ungläubigen.
Als die Sowjets Ende der 1980er Jahre frustriert ihren Rückzug aus Afghanistan antraten, blieben tausende islamistische „Freiheitskämpfer“ zurück und suchten nach neuen Feinden. Der Kaschmir-Konflikt kam da gerade recht. Im indischen Teil der Region hatte sich damals bereits die Jammu & Kaschmir Liberation Front (JKLF) gebildet, die die Unabhängigkeit von Indien forderte. Gezielte Morde sorgten für einen Massenexodus der Hindu-Minderheit. Die indische Regierung schickte tausende Soldaten in Kaschmirs Täler. Obwohl die JKLF 1994 die Waffen niederlegte und ihre Führer wie Yasin Malik in die Politik eintraten, wird der Guerilla-Kampf bis heute von diversen – und nicht zuletzt pakistanischen – Milizen weitergeführt.
Anders als die JKLF haben diese militanten Gruppen keine wesentliche politische Basis in Kaschmir. Nachdem sich die radikale LeT vor wenigen Jahren operationell mit anderen Zellen wie Al-Badr verband, verkündete einer ihrer Anführer, Hafiz Mohammad Said, dass das Ziel nicht nur die Eroberung Kaschmirs, sondern die „Befreiung“ ganz Indiens sei, und erklärte damit das gesamte Land zum militärischen Ziel. Den Worten folgten schon bald Taten: im Jahr 2000 die Attentate auf die Armeeposten in Delhi, im Dezember 2001 der Anschlag auf das Parlament, mehrere Zugbomben mit verheerenden Auswirkungen, zuletzt im Februar dieses Jahres an der pakistanischen Grenze.
Jedoch nicht nur für diese außerhalb jeglicher Staatsgewalt operierenden Gruppen wäre eine Beilegung des Konfliktes unwillkommen. Auch für das pakistanische Militär ist eine Annäherung beider Länder nur bedingt eine gute Nachricht, fließen ihm doch, um für die „indische Bedrohung“ gerüstet zu bleiben, jährlich bis zu 50% der Staatsausgaben zu. „Der Frieden in der Region hängt davon ab, inwieweit der auf Annäherung drängende pakistanische Präsident Perez Musharaf sich gegen Widerstände im eigenen Land durchsetzen kann“, erzählt mir Ahmed V., ein in Srinagar ansässiger Anwalt am Rande eines Symposiums der örtlichen Universität. Doch auch auf indischer Seite ist der Konflikt zu einem Selbstläufer geworden. „In Kaschmir werden Karrieren gemacht“, bemerkt Ahmed trocken. „Ob Militär, Polizist oder militanter Lashkar-Kämpfer: in einem Jahr in Kaschmir verdienst du mehr Geld und steigst die Karriereleiter steiler empor als irgendwo sonst in Indien“, fährt er fort. Und murmelt schließlich mehr zu sich selbst: „Das hatte sich Hari Singh ganz anders vorgestellt.“
1947, nach dem Abzug der britischen Kolonialherren, stand der damalige Herrscher des kleinen Staates Jammu & Kaschmir, Maharaja Hari Singh, wie 564 andere Prinzen auch, vor der Wahl, sich Indien oder Pakistan anzuschließen. Hari Singh schwebte jedoch ein unabhängiger Staat Kaschmir vor. Er zögerte eine Entscheidung hinaus, solange er konnte, und obwohl er sich letzten Endes für Indien entschied, hatten die Herrschaftsansprüche von Indien und Pakistan die Atmosphäre massiv angeheizt. Noch im gleichen Jahr fochten die beiden Rivalen den ersten von drei Kaschmir Kriegen aus. Die zweite Auseinandersetzung, 1971, (die zur Abspaltung des Ostteils Pakistans und zur Gründung von Bangladesch führte), zementierte die so genannte „Line of Control“ als de facto-Grenze, woran auch der dritte Krieg 1999 nichts mehr änderte.
In Kaschmir herrscht eine gemäßigte Richtung des islamischen Glaubens vor, doch wächst der Einfluss des Islamismus. „Der Aufstieg religiöser fanatischer Gruppen wie der LeT Ende der 1980er Jahre spiegelt weniger eine Akzeptanz radikaler Theologie als vielmehr die Ablehnung der indischen militärischen Besatzung wider“, erzählt mir hinter vorgehaltener Hand ein pensionierter indischer Regierungsfunktionär. „Ob es den Jihadis gefällt oder nicht“, fährt er fort, „die integrierende und weltoffene Gesinnung des Sufismus ist in Kaschmir der Hauptzweig des islamischen Selbstverständnisses, und auch die Radikalisierung der vergangenen Jahre hat daran nur bedingt etwas geändert.“
In Kaschmirs Tälern und Bergen sind religiöse Tempel, Grabmäler und andere Pilgerorte, an denen Muslime, Sikhs und Hindus Seite an Seite beten, keine Seltenheit. „In Pakistan jedoch“, wirft die Frau des Pensionisten ein, „ist es gut möglich, dass diese radikalen Gruppierungen den Oberen zum Verhängnis werden. Sollte ihre Macht weiter steigen, ist ein Aufstand gegen Musharafs Militärherrschaft denkbar“, sagt sie mit besorgter Miene. Oder mit den Worten von Ahmad Iqbal, einem pakistanischen Politologen: „Die vom Westen und vom pakistanischen Staat gezüchteten Jihadis legen ihre Eier nun ins eigene Nest.“
So ist die Stabilität der Region, zumindest auf pakistanischer Seite, der Kontrolle der offiziellen Machthaber schon lange entrückt. „Diejenigen, die Pakistans Fanatikern entkommen, werden durch das menschenverachtende Gehabe unserer eigenen Sicherheitskräfte bestenfalls entfremdet, schlimmstenfalls radikalisiert“, kritisiert ein indischer Menschenrechtsaktivist. Auch den schmächtigen Feroz hat die Gewalt nun eingeholt. War er vor einem Jahr noch ein friedlicher Bauer, so will er nun seine Zukunft dem bewaffneten Kampf gegen den Feind widmen. Er habe nun begriffen, dass der Kampf der einzige Weg sei, meint er und schaut dabei abwesend ins Tal hinunter. Wofür er denn nun genau kämpfen will, konnte ich abschließend nicht mehr feststellen.