Telefonieren statt emigrieren

Von Barbara Brustlein · · 2018/Mar-Apr

Was hinter dem Call-Center-Boom in Philippinen steckt und welche Folgen er mit sich bringt, berichtet Barbara Brustlein.

Großartig!“, „fantastisch!“, „gut gemacht!“, sagt Venus P. auf Englisch. Loben, loben, loben, das ist ihr Job. Die Worte stehen auf Kärtchen und dienen in ihrer Arbeitsnische als Gedächtnisstütze. Die Mittdreißigjährige sitzt ausgestattet mit Flachbildschirm, Headset, modernster Telefonanlage in einem Call-Center der Firma Piton Global in der philippinischen Hauptstadt Manila und wählt eine australische Telefonnummer nach der anderen an. Am anderen Ende der Leitung heben StudentInnen in Melbourne oder Sydney ab. „Ich helfe ihnen durch die Prüfungen“, sagt die Telefon-Beraterin. „Manche muss man antreiben, andere an Termine erinnern.“ Sie atmet einmal tief aus.

„BPO – Business Process Outsourcing“ (Auslagerung von Geschäftsprozessen) heißt das Geschäftsfeld, in dem Venus nach einem Arbeitstag dreimal so viel Geld nach Hause bringt, als wenn sie ihrem eigentlichen Beruf als Lehrerin nachgehen würde. Für Venus‘ SchülerInnen zahlt der australische Staat: Der möchte mit solchen Coachings die Bildungsquote daheim anheben.

Venus und ihre KollegInnen gelten als überaus geduldig und freundlich. Das ist, abgesehen von astreinen Englischkenntnissen, Voraussetzung und der Grund dafür, dass 2016 die Call-Center-Industrie auf den Philippinen einen Rekord erreicht hat: 25 Milliarden US-Dollar hat der Industriezweig eingespielt und damit den früheren Spitzenreiter Indien überholt.

Alternative zum Auswandern. Ende 2017 erwirtschafteten die rund eine 1,2 Millionen Call-Center-AgentInnen ähnlich viel wie die elf Millionen Filipinas und Filipinos, die im Ausland als Seeleute, HaushaltsgehilfInnen oder BauarbeiterInnen arbeiten und schwer verdientes Geld nachhause überweisen. Während vor zehn Jahren viele Familien noch mindestens ein Familienmitglied ins Ausland schicken mussten, um mit den Rücksendungen finanziell über die Runden zu kommen, gibt es heute eine Alternative in den Wolkenkratzern Manilas.

Philippinen

Hauptstadt: Manila

EinwohnerInnen: 104 Millionen

Fläche: Mit 343.448 km² auf 7.641 Inseln der fünftgrößte Inselstaat der Welt.

Human Development Index: 116 (von 188)

Regierungssystem: präsidentielle Demokratie mit Staatsoberhaupt und Regierungschef Präsident Rodrigo Duterte (seit Juni 2016).

BIP: 321 Mrd. US-Dollar (2017).

Wirtschaftlich zählt das Land mit einem Wachstum von 6,9 Prozent im Jahr 2016 zu den dynamischsten in Südostasien. Traditionell spielt die Landwirtschaft eine wichtige Rolle – rund die Hälfte der Erwerbsbevölkerung ist in dem Sektor beschäftigt, ihr Anteil am BIP beträgt jedoch nur rund 10 Prozent. Der bedeutendste Wirtschaftszweig ist der Dienstleistungssektor, mit einem Anteil von knapp 60 Prozent.

Die Philippinnen machen derzeit vor allem politisch von sich reden: Präsident Duterte geht im Kampf gegen den Drogenhandel sowie gegen Separatisten und Islamisten brutal vor, es werden schwere Menschenrechtsverletzungen vermutet. 9.000 Menschen sollen im Zuge des Anti-Drogenkampfes ermordet worden sein. Duterte möchte die Verfassung ändern, KritikerInnen fürchten eine Diktatur.

Aber auch diese neue Arbeitswelt in den Call-Centern hat ihren Preis.

„Wenn man sie nur von außen sieht, denkt man, alles ist perfekt: Sie kommen in schicken Klamotten, sind immer sauber und adrett. Aber wie sieht es in diesen Menschen aus, die keine Nacht mehr schlafen, ihre Kinder nicht sehen und in einer künstlichen Welt leben?“, fragt Daniel Pilario, ein Vinzentinerpater und Theologe in Manila. Er und seine Mitbrüder bieten den Call-Center-ArbeiterInnen Betreuungsplätze für ihre Kinder, sehen aber, dass es noch mehr zu tun gibt.

Auch Ellen D. arbeitet in einem Call-Center. Pater Pilario kennt die 40-Jährige, weil sie fast jeden Tag in die Abendmesse kommt, bevor sie um 20 Uhr ihre Nachtschicht in einem der riesigen Call-Center beginnt. Den Namen ihres Arbeitgebers möchte sie nicht nennen. Bis fünf Uhr früh telefoniert sie mit US-AmerikanerInnen. Je nach Auftrag muss sie Menschen beruhigen, die sich wegen ihren hohen Telefonrechnungen beschweren, oder ihnen Finanzprodukte verkaufen. „Wir hatten auch schon Aufträge, bei denen wir bei Privatleuten, die bankrott waren, Geld für offene Rechnungen eintreiben mussten. Das ist das Schlimmste“, sagt sie.

Ellen ist mittlerweile Teamleiterin. Sie hat eine Tochter, von ihrem Mann ist sie getrennt. Sie waren quasi nie gleichzeitig wach und zuhause. Ellen war heimgekommen, als ihre Tochter aufstand und hatte sie für die Schule fertig gemacht. Das sei sehr belastend für sie und die Familie gewesen.

Getrennte Welten. Der Lärmpegel in den Telefonierstätten der Firmen ist gewaltig, auch bei Piton Global, das zu den kleineren Firmen der Branche gehört. Die Größenverhältnisse im Call-Center-Geschäft werden in „seats“, von denen aus telefoniert und E-Mails verschickt werden, gemessen. Piton Global zählt ein paar hundert „Sitze“, andere haben tausende. „Wir haben den persönlichen Touch“, sagt Jan Ellspermann.

Der Firmenchef stammt aus dem deutschen Bad Dürkheim und wanderte vor mehr als einem Jahrzehnt auf die Philippinen aus, weil er von den vielversprechenden Geschäftsmöglichkeiten gehört hatte.

In Ellspermanns Augen könnten alle PhilippinInnen von der Erfolgsgeschichte der Branche profitieren, für Ärmere sei es ein Weg aus dem Slum: „Kurz nach der Jahrtausendwende gab es hier vielleicht zehn Call-Center und 1.000 Leute, die in dem Sektor gearbeitet haben“, sagt er.

Der Call-Center-Bereich ist ein Beispiel für die boomende Wirtschaft des Landes. Die Kaufkraft der Mittelklasse wachse, so Ellspermann, der Wohnungsmarkt explodiere, jeder wolle ein Auto, jeder wolle konsumieren. Theologe Pilario erkennt im Boom auch Probleme: „Unsere Umwelt geht vor die Hunde, alles wird verbaut, die Abgase sind entsetzlich“, sagt er.

Das Call-Center-Geschäft bringt zudem eben auf der sozialen Ebene viele Herausforderungen mit sich. Die Angestellten arbeiten und leben in getrennten Welten: Sie wohnen weit außerhalb des modernen Zentrums, wo die Wohnungen winzig und dennoch kaum bezahlbar sind. Sie pendeln in überfüllten Kleinbussen zwischen Wohnstätte und Arbeitsplatz, immer in der Hoffnung, einen der begehrten Sitzplätze zu ergattern, um für eine Weile die Augen schließen und schlafen zu können. Die Schattenseiten ihres Jobs nehmen sie in Kauf, ins Ausland zu gehen ist für sie nur die zweite Wahl.

Der Druck wächst allerdings. Die Digitalisierung der Arbeitswelt wird auch diesen Sektor verändern: In den nächsten Jahren könnten Roboter viele Aufgaben der Call-Center-ArbeiterInnen übernehmen. Zudem wächst die internationale Konkurrenz, China etwa drängt in den Call-Center-Markt. „Der Nachteil der Chinesen ist nur der Mangel an guten Englischkenntnissen“, sagt Jorge Sibal, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Manila. Daher biete China gerade in großer Dimension Verträge für EnglischlehrerInnen im eigenen Land an.

Ob Venus eines Tages ChinesInnen schulen wird, das wird sich zeigen. 

Barbara Brustlein ist Chefredakteurin des deutschen missio magazin und schreibt als freie Journalistin Beiträge aus aller Welt.

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