Über 120 Dekrete, von denen die meisten das Leben der Frauen einschränken, haben die Taliban seit der Machtübernahme 2021 erlassen. Wie sie sich für Menschen- und Frauenrechte einsetzt, erzählt die Politologin und Aktivistin Horia Mosadiq.
Wie gestaltet sich das Leben der Frauen in Afghanistan unter dem Regime der Taliban?
Es fällt mir schwer, überhaupt von „Leben“ zu sprechen – vor allem seit dem 24. August 2024. Da haben die Taliban ein neues Gesetz erlassen, das Frauen verbietet, außerhalb ihres Hauses zu sprechen. Seither verlassen Frauen die eigenen vier Wände kaum mehr. Mädchen dürfen nur mehr sechs Jahre in die Schule gehen und nicht mehr studieren. Frauen dürfen nur mehr wenige Berufe ausüben. Sie dürfen nicht mehr in die Hamams, die Badeanstalten, und Schönheitssalons wurden auch geschlossen.
Durch das Verbot in der Öffentlichkeit zu sprechen, können sie niemanden mehr um Hilfe bitten. Soziale Kontakte können Frauen, wenn überhaupt, nur mehr online über WhatsApp- oder Facebook-Gruppen pflegen. Da treffen sich manche online, um gemeinsam zu singen oder Texte zu lesen. Allerdings sind viele Frauen auf die Smartphones von Ehemännern, Söhnen oder Brüdern angewiesen, weil in der Regel nur die männlichen Familienmitglieder Smartphones mit mobilen Daten haben.
Sie leiten unter anderem eine Organisation, die Menschenrechtsverteidiger:innen in Afghanistan unterstützt. Wie gehen Sie da vor?
Unter den derzeitigen Bedingungen ist es extrem schwierig. Wir arbeiten verdeckt und nennen den Namen unserer Organisation nicht mehr öffentlich. Mit Wissen und finanziellen Mitteln unterstützen wir die Menschen im Land: z.B. Lehrer:innen, die weiterhin Mädchen und junge Frauen unterrichten, oder Anwälte, die bei Fragen zu häuslicher Gewalt, Sorgerecht oder Erbschaft rechtliche Beratung leisten. Ein klassisches Rechtssystem gibt es nicht mehr, alles beruht auf der Scharia, dem Islamischen Recht. Das wiederum wird nicht einheitlich umgesetzt, kann unterschiedlich interpretiert werden. Vieles hängt von der Interpretation der Richter ab. Das Recht auf anwaltliche Vertretung existiert praktisch nicht. Frauen oder deren männlichen Vertreter, denen wir rechtliche Beratung bieten, helfen wir, ihre Fälle besser zu argumentieren. Zudem organisieren wir Online-Treffen, um Frauen psychosoziale Unterstützung zu bieten.
Anfang Oktober entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass afghanischen Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts und der Staatszugehörigkeit der Flüchtlingsstatus zu gewähren sei. Die österreichischen Behörden wollen trotz dieses Urteils an Einzelfallprüfungen bei Asylanträgen von Afghaninnen festhalten. Was sagen Sie dazu?
Ich verstehe, dass Regierungen wissen möchten, wer in ihr Land kommt und, dass ihnen zufolge nicht jede oder jeder Recht auf Asyl hat. Aber: In Afghanistan ist jede Frau und jedes Mädchen allein aufgrund ihres Geschlechts von Verfolgung bedroht. Ihnen werden die grundlegenden Menschenrechte verwehrt. Europäische Staaten sollten hier mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass sie nicht nur auf dem Papier für Menschenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter eintreten. Ich frage mich, warum Frauen aus Ländern wie Afghanistan, wo es eine Geschlechter-Apartheid gibt, keinen internationalen Schutz verdienen? Warum glauben manche, dass unser Recht als gleichberechtigte Menschen in Frieden zu leben, zu arbeiten und uns zu bilden, verhandelbar ist?
Was kann die Zivilgesellschaft hier tun, um Mädchen und Frauen in Afghanistan zu unterstützen?
Man kann NGOs finanziell unterstützen und das Thema nicht in Vergessenheit geraten lassen. Unsere Stimmen müssen gehört werden. Es ist ebenso wichtig, Politiker:innen immer wieder zu fragen, was sie getan haben und tun werden, um diese Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Wenn wir wirklich an die Universalität der Menschenrechte und an Geschlechtergleichstellung glauben, sollten wir eine internationale Koalition bilden und die Anerkennung der Geschlechter-Apartheid als Verbrechen fordern.
Interview: Milena Österreicher
Horia Mosadiq setzt sich seit mehr als 30 Jahren für Frauen- und Menschenrechte ein. Nach Anfeindungen und Übergriffen auf ihre Familie zog sie 2008 nach Großbritannien und engagiert sich seither von dort aus für Menschenrechte in Afghanistan, speziell jener von Mädchen und Frauen. Mosadiq war im Herbst 2024 auf Einladung des Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC) in Wien.
Milena Österreicher ist Chefredakteurin des vierteljährlich erscheinenden MO-Magazins für Menschenrechte. Als freie Journalistin schreibt sie über Feminismus, Menschenrechte und Migration.
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