TABAK

Von Redaktion · · 2004/09

Rauchen ist Unsinn und das Aufhören nur eine Frage des Willens? Nicht ganz. New Internationalist-Redakteur Dinyar Godrej beleuchtet die dunklen Seiten einer tödlichen Branche, die kräftige Lebenszeichen von sich gibt.

Es begann mit eilig auf Papier gekritzelten, in den Schuh gesteckten und herausgeschmuggelten Notizen. Was Merrell Williams las, war genauso faszinierend wie empörend – und es war ihm klar, dass die Informationen höchst brisant waren. Dann wurde er mutiger. Er stopfte Unterlagen vorn in seine Hose und wartete jedes Mal, wenn er die Tore des Unternehmens passierte, auf das Schrillen eines Alarmsignals. Williams war 1988 eingestellt worden, um geheime Dokumente für das Tabakunternehmen Brown & Williamson (B&W) in Louisville, Kentucky zu chiffrieren. Gemeinsam mit einigen anderen KollegInnen sollte er die heikelsten Dokumente danach bewerten, welchen Schaden sie bei ihrer Offenlegung in einem Gerichtsverfahren anrichten könnten. Merrell Williams war der erste „Whistle-blower“ der Tabakindustrie, ein „Verräter“ aus den eigenen Reihen. Er handelte zweifellos auch aus moralischen Gründen – er hatte herausgefunden, dass B&W bereits Anfang der 1960er Jahre über die Sucht erzeugende Wirkung von Nikotin Bescheid wusste, diese Tatsache aber weiter öffentlich bestritt. Und er hatte entdeckt, dass es Marketing-Aktivitäten gab, die speziell auf Kinder ausgerichtet waren, dass Produkte in Filmen platziert wurden und Anwälte der Branche jede unternehmensinterne Forschung stoppten, die negative Folgen des Rauchens aufzeigte. Er dachte daran, wie sein Vater nach einem Herzanfall auf die Rettung wartete und sich dabei eine Zigarette anzündete. Ein Jahr nachdem er sein erstes Dokument herausgeschmuggelt hatte, hörte er selbst mit dem Rauchen auf.

Bald stellte Williams fest, dass seine potenziellen Verbündeten, darunter auch JournalistInnen, nicht mitmachen wollten, weil er sich seine Informationen illegal beschafft hatte. 1993 wechselte er die Strategie und beauftragte einen Anwalt, auf Schadenersatz zu klagen: wegen der gesundheitlichen Folgen seines eigenen Tabakkonsums und der Art und Weise, wie B&W ihn über seine geheime Chiffrierungsarbeit zu einem „Mitverschwörer“ bei den betrügerischen Machenschaften der Tabakunternehmen gemacht hatte. Er bot an, die Dokumente im Rahmen eines Vergleichs zurückzugeben. Die Anwälte von B&W antworteten mit einer einstweiligen Verfügung. Er durfte mit niemandem über die Informationen sprechen, zu denen er im Rahmen seiner Arbeit Zugang hatte, auch nicht mit seinem eigenen Anwalt. Ein Jahr später wurde der Inhalt der drei Dokumentenschachteln von Williams mit Hilfe eines anderen Anwalts der Öffentlichkeit zugespielt. Williams verlor zwar seine Klage gegen B&W, aber der Geist war aus der Flasche.*)
Bis heute wurden durch Klagen im Anschluss an den Merrell-Williams-Fall die Veröffentlichung von 400 Millionen Seiten interner Dokumente der Tabakindustrie erzwungen. So konnte aufgedeckt werden, wie Tabakunternehmen weltweit versuchten, die tödlichen Folgen und die Sucht erzeugende Wirkung des Rauchens sowie die hinterhältigen Methoden abzustreiten, mit denen sie für das Rauchen warben. Wie viele Millionen Seiten vergraben wurden oder im Reißwolf landeten, weiß natürlich niemand.
Sorgen über die gesundheitlichen Folgen des Tabakkonsums sind wahrscheinlich ebenso alt wie der Gebrauch der Pflanze selbst – schon sehr früh wurde vermutet, er würde die Eingeweide austrocknen. Doch erst in den 1950er Jahren gelang es dem britischen Epidemiologen Richard Doll, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs nachzuweisen. Doll, mittlerweile 92 Jahre alt, über die damalige skeptische Reaktion auf seine Erkenntnisse: „Für die meisten Leute in der Krebsforschung war es ungewöhnlich, epidemiologische Verfahren zum Nachweis der Krebsursachen einzusetzen. Sie stützten sich auf Tierversuche. Einige waren durchgeführt worden, dabei hatte aber Tabakteer keinen Krebs verursacht. Also gingen sie von der Annahme aus, dass ein kausaler Zusammenhang nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit gegeben war.“
Doll meint, dass es der britischen Tabakindustrie anfangs nicht bewusst war, dass sie ein gefährliches Produkt verkaufte, und dass sie sich „einigermaßen verantwortlich“ verhielt. Vorerst versuchten die Unternehmen vergeblich, das Gegenteil zu beweisen. Doch bereits 1957 hatte British American Tobacco (BAT) für Krebs den Codenamen „Zephyr“ eingeführt, um den Kenntnisstand des Unternehmens zu verschleiern. In den USA hatten erste Veröffentlichungen über Zusammenhänge zwischen Rauchen und Krebs einen starken Rückgang des Zigarettenabsatzes bewirkt. Die großen Tabakkonzerne reagierten mit der Gründung des Tobacco Industry Research Committee. Dessen Aufgabe war es, Forschungsergebnisse, die auf einen Zusammenhang zwischen Krebs und Tabakkonsum hinwiesen, in Frage zu stellen und eine PR-Kampagne für Zigaretten zu führen.

Die Taktik der Tabakkonzerne blieb seither stets dieselbe: Das Vorliegen wissenschaftlicher Beweise wird bestritten, Hinweise auf Gesundheitsgefahren werden in Frage gestellt und Maßnahmen, das Rauchen an öffentlichen Plätzen zu beschränken, mit allem Nachdruck bekämpft. Das Lügen und Leugnen nahm teilweise unverschämte Formen an. Zu einer Studie, die ergeben hatte, dass rauchende Mütter kleinere Babys auf die Welt brachten, meinte etwa der frühere Chef von Philip Morris, Joseph F. Cullman: „Manche Frauen würden lieber kleinere Babys haben.“
Noch 1994 behaupteten leitende Manager von sieben Tabakunternehmen vor einem Unterausschuss des US-Kongresses unter Eid, nicht an die Sucht erzeugende Wirkung von Nikotin zu glauben – obwohl wissenschaftliche Studien seit mindestens 30 Jahren gezeigt hatten, dass Nikotin ebenso Sucht erzeugend ist wie etwa Kokain oder Heroin. Der heute in der Europäischen Union geltende Höchstgehalt an Nikotin pro Zigarette (ein Milligramm) müsste um 95 Prozent reduziert werden, um eine Suchtbildung auszuschließen. Damit wäre aber natürlich der wichtigste Grund beseitigt, aus dem Menschen überhaupt rauchen.

Rauchen ist keine Leidenschaft jüngeren Datums. Tabak dürfte erstmals etwa 6.000 v. Chr. in Südamerika angebaut worden sein. Im ersten Jahrhundert v. Chr. wurde Tabak von indigenen Völkern im ganzen Andenraum geschnupft, gekaut und geschluckt, für Augentropfen und Einläufe verwendet und natürlich geraucht. Die weltweite Verbreitung der Praxis begann mit der ersten Tabakpflanze, die Kolumbus nach Europa mitbrachte. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts galt Tabak als Allheilmittel, das für Leiden von Blähungen bis zur Tollwut, als Antiseptikum und als Mittel gegen Kopfschmerzen empfohlen wurde. Sogar AsthmatikerInnen sollten Tabak rauchen, meinten Ärzte. „Ein schlechtes Gedächtnis? Ärzte verschrieben Tabakrauch, denn er stieg ins Gehirn, den Sitz der Erinnerung“, so Tara Parker-Pope vom Wall Street Journal in ihrem 2001 erschienenen Buch „Cigarettes“. „Die Pest? Rauchen, so glaubte die Ärzteschaft der Zeit, würde sie einem vom Leibe halten, was dazu führte, dass während der Pestepidemie von 1665 in England verbreitet geraucht wurde. Während der Pestjahre wurden Jungen am Eton College mit Peitschenhieben bestraft, wenn sie versuchten, um ihre tägliche Rauchdosis herumzukommen.“
Vor kurzem kündigte der traditionelle Führer des Königreichs Bunyoro in Westuganda an, Großbritannien vor dem Internationalen Strafgerichtshof auf umgerechnet 4,2 Mrd. Euro Schadenersatz für „Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde“ in den 1890er Jahren zu klagen. Die Begründung König Solomon Igurus: „Britische Kolonialisten veranlassten die Bevölkerung, die früher Nahrungsmittel für ihre Familien angebaut und Viehzucht (…) betrieben hatte, eine toxische und giftige Substanz namens Tabak anzubauen. Heute sind meine Untertanen hungernde und unterernährte Tabakbauern, die eine Feldfrucht anbauen, die sie selbst, die Menschen, die sie verarbeiten und alle ihre Konsumenten vergiftet. Von 1927 bis zum heutigen Tag haben kriminelle britische Elemente davon profitiert, und der britischen Krone war dies die ganze Zeit bewusst. Meine Untertanen verdienen ein besseres Leben als das von Giftproduzenten.“ Klar, dass die Niederlassung von British American Tobacco in Uganda die Sache ganz anders sieht: „(…) Rund 850.000 Erwachsene im ganzen Land genießen Zigaretten und sind sich der Risiken des Rauchens bewusst. Für mehr als 60.000 Bäuerinnen und Bauern ist Tabak die einzige Einkommensquelle, während die Branche etwa zwei Millionen Arbeitsplätze sichert.“
Das Argument des Beitrags der Tabakindustrie zur Wirtschaft wird oft ausgegraben. Tatsächlich ist der wirtschaftliche Effekt der Branche alles in allem negativ. Unter Einbeziehung der Gesundheitskosten produziert das weltweite Tabakgeschäft einen Verlust von 200 Mrd. US-Dollar im Jahr, schätzt die Weltbank. Bloß zwei Länder, Simbabwe und Malawi, sind vom Tabakanbau abhängig, und das zu ihrem Nachteil. Beide Länder können den eigenen Nahrungsmittelbedarf nicht decken und verlieren ständig große Waldflächen, die für das Trocknen des Tabaks unter die Axt kommen. In vielen Ländern haben BäuerInnen den Eindruck, in eine „Tabakfalle“ gelockt worden zu sein (siehe Artikel auf Seite 34), und würden gerne auf andere Produkte umsteigen. Weltweit geben Menschen für Tabak jährlich mehr als 400 Mrd. Dollar aus, viele davon arme Leute, die es sich gar nicht leisten können. Dass jede Verringerung des Tabakkonsums Kaufkraft für nützlichere Dinge freisetzen würde, liegt auf der Hand.

Kaum verständlich ist daher, wie sich die Argumentation mit den Arbeitsplätzen und dem Beitrag zur Wirtschaft unter politischen EntscheidungsträgerInnen behaupten kann. Die EU hat sich nun endlich dazu entschlossen, die Subventionierung des Tabakanbaus zurückzufahren. Tabak wird auf nur 0,1 Prozent der gesamten Landwirtschaftsfläche der Union (EU-15) angebaut, aber jährlich mit 1,2 Mrd. Dollar gestützt – mit zwanzigmal mehr pro Hektar als der Anbau von Nahrungsmitteln. In Indien subventioniert die Regierung als Geschenk an die breite, arme WählerInnenschaft die traditionellen Hand gerollten Bidis, obwohl schätzungsweise sechs Millionen Kinder unter 14 Jahren in der Bidi-Produktion arbeiten.
Die weit geringere Regulierung der Tabakwirtschaft im Süden hat den internationalen Konzernen geholfen, in die armen Länder zu expandieren. Magnetische Anziehungskraft übt vor allem die gewaltige Bevölkerung Asiens aus, nachdem der Markt in den reichen Ländern durch Werbebeschränkungen und sinkende RaucherInnenanteile zusehends schrumpft. Mitte der 1980er Jahre starteten die USA eine von Sanktionsdrohungen begleitete Offensive, um die bisher von Staatsmonopolen belieferten asiatischen Märkte für ihre eigenen Tabakkonzerne zu öffnen, allen voran für Philip Morris. Ausländische Marken, milder und leichter im Rauch und beworben in breiten Werbekampagnen, begannen die Märkte zu überschwemmen. Der Anteil der RaucherInnen schnellte hoch. Der damalige Chef der obersten Gesundheitsbehörde der USA, Surgeon General C. Everett Koop, kommentierte die Entwicklung mit den Worten: „Ich glaube nicht, dass wir als Bürger weiter damit fortfahren können, Krankheit, Behinderungen und Tod zu exportieren.“

Der attraktivste Markt ist China, wo die gesellschaftliche Akzeptanz des Rauchens hoch ist und mehr als 60 Prozent der Männer rauchen. Das chinesische Staatsmonopol ist der größte Zigarettenhersteller der Welt. Tabaksteuern machen etwa zehn Prozent der gesamten Steuereinnahmen aus. Die Produktivitätseinbußen und die Gesundheitsausgaben, die der Tabakkonsum nach sich zieht, kosten China jedoch nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO beinahe das Doppelte. Ausländische Tabakkonzerne bekamen ihren Fuß in die Türe, indem sie zuließen, dass ihre Zigaretten in großem Stil ins Land geschmuggelt wurden; heute beteiligen sie sich am chinesischen Monopol. Die Einfuhrzölle auf Zigaretten wurden dieses Jahr durch ein Abkommen zwischen den USA und China gesenkt. Der Marlboro-Cowboy reitet in China, während er im Westen aus dem Sattel geworfen wurde. Es gibt sogar Pläne, eigene Zigaretten für Chinesinnen zu entwickeln, die bisher dem Rauchen nur wenig abgewinnen konnten.
Anti-Tabak-Initiativen rund um die Welt unterstützen das WHO-Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakmissbrauchs (FCTC), das mit der Tabakwerbung Schluss machen und der Einmischung der Branche in die Gesundheitspolitik ein Ende bereiten könnte. Gleichzeitig werden sie jedoch Regierungen dazu drängen müssen, die Tabaksteuern weiter zu erhöhen – viele RaucherInnen hören auf, wenn es ihnen zu teuer wird. Rauchverbote am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum unterstreichen nicht nur, dass Rauchen gesellschaftlich unerwünscht ist, sondern bringen auch einige dazu, mit dem Rauchen aufzuhören. Die Einführung eines Rauchverbots in irischen Pubs Anfang des Jahres war ein Erfolg auf der ganzen Linie – weder kam es zu den befürchteten Wutanfällen von RaucherInnen, noch ging der Besuch zurück. Der einzige markante Unterschied: Es stehen nun mehr Getränke verlassen herum, weil einige Gäste vor die Tür gehen, um schnell eine zu rauchen. Natürlich muss auch die Aufklärung über die Gesundheitsrisiken des Rauchens weitergehen, und für RaucherInnen, die aufhören wollen, muss es weiter medizinische Unterstützung geben.
Schätzungen zufolge dürften im Verlauf des 20. Jahrhunderts etwa 100 Millionen Menschen an den Folgen ihres Tabakkonsums gestorben sein. Ohne wirksame Gegenmaßnahmen könnte diese Zahl bis Ende dieses Jahrhunderts auf eine Milliarde anwachsen. Tabakkonsum, so eine Prognose der Weltbank, wird in 25 Jahren die wichtigste einzelne Todesursache sein. Warum also das Zeug nicht einfach verbieten? Wären Zigaretten ein neues Produkt, hätten sie ohnehin keine Chance auf Markteinführung – sie würden einfach an den Hürden des VerbraucherInnenschutzes scheitern.

Einem Verbot steht jedoch die historische und kulturelle Verwurzeltheit des Tabakkonsums entgegen. Viele europäische Länder hatten zwar kein Problem damit, die Einführung von Kautabak zu verbieten; das Rauchen von Tabak ist aber bereits Tradition und weit verbreitet. Außerdem sollten Menschen das Recht haben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, selbst wenn sie dabei Risiken eingehen – ein Argument, dem sich demokratisch gesinnte Menschen nur schwer verweigern können. Aber ein „Recht auf Rauchen“ braucht ausgleichende Maßnahmen und Bedingungen: keine Manipulation seines Images durch Werbung, Filmstars und Medien; das Wissen, dass das Suchtrisiko bei 90 Prozent liegt; die aktive Kenntnisnahme seiner gesundheitlichen Folgen durch die RaucherInnen und ihr bewusstes Einverständnis, wahrscheinlich Selbstmord auf Raten zu begehen; die Verpflichtung, die Gesundheit anderer nicht zu gefährden, und die Entscheidungsfreiheit, aufzuhören, wenn man will.

Copyright New Internationalist

*) Die von Merrell Williams ans Licht gebrachten Dokumente sind im Web unter www.library.ucsf.edu/tobacco veröffentlicht.

www.library.ucsf.edu/tobacco

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