Sweat & sour

Von Matthew Reiss · · 2001/12

Lohnsklaverei ist für viele ChinesInnen in New York die einzige Überlebenschance. Aber sie organisieren sich gewerkschaftlich, berichtet New Internationalist-Autor Matthew Reiss.

Durch die stählernen Rollläden dringt eine Art Surren auf die Straße. Drinnen nimmt eine Frau ein Stück von einem Ballen zugeschnittener Polyesterstoffteile. Sie legt es in die Nähmaschine und löst den Sicherungsriegel mit einem Tritt auf den Kniehebel. Sie führt den Stoff, ihr nackter Fuß auf dem Pedal, ratternd sticht die Nadel eine weiße Naht. Kniehebel. Sie wirft das Stück auf einen Stapel. Nimmt das nächste. Kniehebel …
„Dazu sagen sie Sweatshop“, sagt Vince Cardillo, Arbeitsinspektor für den Bundesstaat New York. „Weil es heiß ist.“ Ventilatoren bewegen die feuchte Luft. Überall schweben aufgewirbelte Polyesterfasern. Eine Frau trägt ein Baumwolltuch über Mund und Nase. Vince fordert die elegant gekleidete Chefin auf, die Anmeldungsunterlagen und die Lohnbuchhaltung vorzulegen. In einem Buddhaschrein aus rotem Plastik glimmen Räucherstäbchen – zum Schutz der Arbeiterinnen und des Notausgangs. Der ist fest verriegelt. Lu blickt von ihrer Maschine auf. Sie stammt aus der chinesischen Gemeinschaft in Peru. „Dort ist die Arbeit viel besser“, sagt sie mir. „Was zum Teufel erzählst du ihm?“, donnert die Chefin. Lu hat schon verstanden. Ein Arbeitsinspektor kommt herüber und befragt sie. „Ich verdiene 80 bis 100 Dollar die Woche“, lügt sie. Sie weiß nicht, dass selbst das Doppelte dieses Gehalts noch unter dem offiziellen Mindestlohn von 4,25 US-Dollar pro Stunde liegt.

Wie viele ImmigrantInnen im New Yorker Chinatown musste sich Chao nicht wirklich dazu entscheiden, in die USA zu gehen. „Amerika ist wie der Militärdienst“, sagt er. „Jeder im Alter zwischen 18 und 45 macht das.“ 18 Monate lang verbrachte Chao ohne gültige Papiere in insgesamt sieben Ländern. Er flüchtete vor Grenzkontrollbeamten in Vietnam, wurde in Kambodscha beschossen, zweimal in Thailand angehalten und nach Kambodscha zurückgebracht, wo er sich ein Flugticket nach Moskau beschaffte. Dort wurde er am Flughafen festgenommen, danach an der deutschen Grenze zurückgewiesen. Schließlich kam er mit einem Flug aus Kiew nach New York. Im Flugzeug zerriss er seinen falschen taiwanesischen Reisepass und spülte ihn in den Atlantik.
„Der Schmuggel wird nie aufhören, solange es Nachfrage nach billigen Arbeitskräften gibt“, erklärt Wing Lam von der Chinese Staff and Workers Association (CSWA). „Die Leute in der Regierung glauben offenbar, Amerika ist nur durch Lohnsklaverei zu retten. Sie wollen billige Arbeitskräfte, um die Länder der Dritten Welt aus dem Markt zu drängen.“ Markige Sprüche, die zwar nicht ganz zu seinem zarten Körperbau und seiner leisen Stimme, aber zu einem Mann passen, der sich mit der Gastgewerbebranche in Chinatown anlegte – und gewann. 1993 streikte und demonstrierte seine Organisation sieben Monate lang, bis sie einen Vertrag mit Silver Palace in der Tasche hatten, damals das größte Restaurant im Viertel.
Nach dem Sieg gegen Silver Palace nahm die Organisation mit Hungerstreiks und Streikposten einen anderen großen Namen in Chinatown aufs Korn, das Jing Fong Restaurant. Aber als der Generalstaatsanwalt des Staates New York Jing Fong im Jänner 1997 auf Lohnzahlungen und Schadenersatz in Höhe von 1,5 Millionen Dollar verklagte, explodierte eine Brandbombe am Hauptsitz der CSWA in Manhattan.
Doch der Kampf geht weiter. UNITE (Union of Needletrades, Industrial and Textile Employees), eine Gewerkschaft mit mehr als 250.000 Mitgliedern in Nordamerika, hat 500 Sweatshop-ArbeiterInnen und Familienangehörige zusammengebracht. Sie versammeln sich auf der Eighth Avenue, in der Nähe des Central Park – in einem der vier chinesischen Viertel von New York – und tragen Tafeln, auf denen die Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns gefordert wird. Der Marsch beginnt bei einem Sweatshop, wo ArbeiterInnen aus den mit stählernen Rollläden versehenen Fenstern herausschauen, um den Grund für den Auflauf herauszufinden. Die Marschierenden rufen „No pay, no way“ auf Englisch, Spanisch und Kantonesisch, und die ArbeiterInnen antworten mit Anfeuerungsrufen und geballten Fäusten. Vor einem großen Sweatshop wird der Demonstrationszug langsamer, die Parolen werden lauter, damit die Leute drinnen sie hören können. Es funktioniert. Ein Dutzend ArbeiterInnen kommen zum Fenster. Ihre neugierigen Blicke verwandeln sich in ein Lächeln, während sie sich umdrehen und ihren KollegInnen mit den Fingern zeigen, was da draußen los ist. Aber sie können nicht mitmarschieren. Ihren Job zu riskieren hieße, das Leben ihrer Familie aufs Spiel zu setzen. Für sie sind die USA kein Land der Freiheit.


Die Artikel dieses Themas (ausgenommen „Die Not mit dem Internationalismus“ S. 36) wurden zuerst im Monatsmagazin „New Internationalist“ (Ausgabe November 2001) veröffentlicht. Wir danken den KollegInnen in Oxford für die gute Zusammenarbeit. Der „New Internationalist“ kann unter der Adresse P.O.Box 79, Hertford, SG141AQ, U.K., bezogen werden (Jahresabonnement: 26,85 Pfund; Telefon 0044/171/82 28 99).
Redaktionelle Bearbeitung und Kürzung der Artikel: Irmgard Kirchner. Übersetzung: Robert Poth.

Matthew Reiss schreibt über Menschenrechte in New York und im Ausland. Seine Kontaktadresse: nyreport@aol.com. CSWA und UNITE im Web: www.cswa.org bzw. www.uniteunion.org

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