Suffering and Smiling

Von Ike Oguine · · 2002/06

Auf den Straßen von Lagos kämpft jeder gegen jeden – und alle bleiben im Verkehrsstau stecken.

Zwar hat es der Kapitalismus geschafft, einige auf High-Speed zu bringen, aber andere sind ganz offensichtlich auf der Kriechspur unterwegs. Und was anderswo als Mittel der Beschleunigung gilt, ist für viele Menschen in Entwicklungsländern eine Quelle der Frustration. Wir hier in Lagos, der größten Stadt Nigerias, können ein Lied davon singen. Unser Paradebeispiel: der Straßenverkehr. Wir kämpfen mit überfüllten Straßen, ungeregelten Kreuzungen, langen Schlangen vor den Tankstellen und noch dazu mit altersschwachen Bussen, die dazu neigen, an den neuralgischsten Stellen den Geist aufzugeben – den Molues. Diese schwerfälligen, ungemütlichen, gelblackierten Fossile sind eines unserer vielen Verkehrsmittel, die von den Danfos, gelben Minibussen, bis zum Roundlight reichen, dem neuesten Mercedes-Modell mit zwei Paar runder Frontscheinwerfer, das derzeit den Gipfel des materiellen Erfolgs repräsentiert.
Danfos, gelbe Taxis und ihre illegale Konkurrenz, die Kabu-Kabus, sind heute in der Regel Tokunbos, Gebrauchtwagen, die zumeist aus Belgien importiert werden. Wie man letztlich unterwegs ist, hängt von der jeweiligen Brieftasche ab. Für die meisten, die jeden Tag durch die Stadt fahren, um in die Arbeit zu kommen, Geschäfte zu machen oder nach dem einen oder anderen Ausschau zu halten, ist der Molue der Lebensretter, gelegentlich aber auch ein rollender Sarg.

Molue- oder Danfo-Fahrer genießen den Ruf, zu den unverschämtesten und hart gesottensten Leuten des Landes zu gehören, vielleicht sogar der ganzen Welt. Und es wäre erstaunlich, wenn dem nicht so wäre. Wer sich jeden Tag durch diese verstopften Straßen quält, schikaniert von der Polizei und den Mafias, die die Busflotten kontrollieren, dessen Zuneigung zum Rest der Menschheit muss gegen Null streben. Ihre Qualität als Fahrer lässt sich, je nach Standpunkt, als entweder sehr gut oder sehr schlecht bezeichnen. Jedenfalls erfordert es einige Geschicklichkeit, derart klobige Fahrzeuge auf schmalen Spuren zu halten und in die kleinsten sich auftuenden Lücken vorzustoßen. In Lagos kann eine zweispurige Straße, entsprechende Entschlossenheit vorausgesetzt, durchaus in einen vier- oder fünfspurigen Boulevard verwandelt werden.
Zwar sind die Busfahrer mit Abstand am einfallsreichsten und aggressivsten, aber wer lang genug in Lagos unterwegs ist, dem geht die Fahrkultur in Fleisch und Blut über. Beinahe jedes Fahrzeug, ob Bus oder PKW, ist vom Kampf gezeichnet – nachlackierte Stellen, tiefe Kratzer, verbeulte Kotflügel, kaputte Scheinwerfer. Was bedeuten schon die hohen Kosten für Ersatzteile und Reparaturen im Vergleich zur grimmigen Entschlossenheit, keinem Widersacher auch nur einen Millimeter zu gönnen? Das Lenkrad fest umklammert, einen Warnruf oder Fluch ausstoßend, wird aufs Gaspedal getreten und drauf los gefahren. Gibt der Gegner nicht nach, nehmen die Dinge ihren logischen Lauf, man springt aus dem Wagen, streitet und beschimpft einander. Die Schuldfrage bleibt in der Regel ungeklärt. Es mag klar sein, dass dein Widersacher im Unrecht ist, aber wenn er um Nachsicht bettelt und die Umstehenden sich einmischen, hast du plötzlich die ganze Welt gegen dich. Dein Scheinwerfer ist im Eimer, was dich ein paar tausend Naira (die nigerianische Währung, Anm. d. Red.) kosten wird, und entweder bist du ein hartherziger Mensch, der (trotz geringer Erfolgsaussichten) auf Schadenersatz besteht, oder du schluckst den Schaden.

Die deftigsten Flüche der Molue-Fahrer bleiben für die Leute in den Privatautos reserviert, die „slaves“ und „bastards“, die Fahrer aus der Klasse der AutobesitzerInnen. Und der Klassenkampf ist Alltag auf unseren Straßen, ebenso der Kampf der Geschlechter. Frauen am Steuer werden mit einer Extra-Dosis an Hass bedacht, wegen der Pervertierung der „natürlichen“ Ordnung durch den Besitz eines Wagens, während Millionen ihrer von Gott ausersehenen Beherrscher mit Molues Vorlieb nehmen müssen. Frauen gelten als schreckliche Fahrerinnen, zu langsam, zu vorsichtig, Qualitäten, die auf den Straßen unserer Stadt verachtet werden. Eine weitere Zutat sind das Geheul der Sirenen und die bewaffneten Konvois, die mächtige Regierungsfunktionäre und die Geldtransporter der Banken begleiten. Wenn ein Neuankömmling, überfordert vom Verkehrschaos und fertig mit den Nerven, die Sirenen hört und angesichts der Blinklichter und der mit automatischen Waffen fuchtelnden Männer sein Auto stehen lässt und Fersengeld gibt, wäre es ihm nicht zu verdenken.
Schafft man es, ein Straßenstück zu erreichen, das nicht verstopft ist, und sei es auch noch so kurz, wird man von einem Gefühl unbändiger Freiheit erfasst. Molues, Roundlights, Tokunbos, alle ziehen plötzlich mit Vollgas davon wie auf einer Rennstrecke. Und nicht nur auf Hauptstraßen. Viele Kinder in Nebengassen wurden zum Opfer von Fahrern, die gerade ihre wenigen Minuten der Freiheit genossen. Und da Ersatzteile mit der Abwertung des Naira ständig teurer werden und unsere Mechaniker eher auf gut Glück dahinwerkeln, neigen die Bremsen dazu, ohne Vorwarnung zu versagen. Wir sehen es mit eigenen Augen oder lesen in Zeitungen, wie Molues in die Lagune stürzen, Lastwagen in menschenüberfüllte Märkte rasen und jedes Mal einige von uns ins Jenseits befördern. Das vielleicht schrecklichste Unglück war wohl, als ein Molue (wahrscheinlich beladen mit Kanistern voller Diesel, denn damals war Treibstoff gerade knapp) nach einem Unfall auf der Third Mainland Bridge in Flammen aufging und rund 30 Fahrgäste verbrannten. Ich kam kurz danach vorbei, und sie saßen immer noch steif auf ihren Sitzen im Gerippe des Busses, geradeaus starrend wie eine Klasse überfolgsamer SchülerInnen, dünn wie Skelette und sehr, sehr schwarz.

Der verstorbene Fela, Poet des Schmerzes und der Absurdität von Lagos, beschrieb die Situation in einem Hit in den 80er Jahren: „Suffering and Smiling“, Leiden und Lächeln. Ein „Lächeln“, zu dem wahrscheinlich auch die grimmige Schicksalsergebenheit gehört, mit der wir uns immer wieder in den Alltag stürzen, und der erstaunliche Humor, mit dem viele von uns noch immer dieses Leiden erdulden.
Die Rückkehr zur zivilen Herrschaft Mitte 1999 brachte uns einen neuen Gouverneur, der manch Vernünftiges vor hat, aber vor einer komplexen Aufgabe steht. Mit seinem Vorschlag einer verpflichtenden jährlichen Fahrzeugüberprüfung löste er einen gewaltigen Aufschrei der gesamten Transportbranche aus, ob Besitzer oder Fahrer. Ersatzteile sind teuer, und der Vorschlag würde der Polizei und den Beamten, die diese Zertifikate ausstellen müssten, neue Erpressungsmöglichkeiten verschaffen. Immerhin gibt es jetzt junge Männer, die an manchen Kreuzungen den Verkehr regeln helfen; genug sind es nicht, aber es ist ein Anfang. Manche Straßen werden instandgesetzt, was das Verkehrschaos in Teilen der Stadt verschlimmert hat, aber nach Abschluss der Arbeiten die Situation ein wenig verbessern dürfte. Aber um eine wirkliche Veränderung herbeizuführen, müsste unsere Verkehrspolitik dringendst umgekrempelt werden.
Zu lange haben wir den öffentlichen Verkehr bloß als weitere Bereicherungsmöglichkeit für Beamte betrachtet und Alternativen wie etwa ein öffentliches Schienenverkehrsnetz vernachlässigt. Heute ist Nigeria zum weltweit größten „Endlager“ für Gebrauchtwagen geworden, und die Straßen von Lagos sind mit langen Reihen luftverpestender Molues verstopft. Eine Umkehr dieser Entwicklung wird nur möglich sein, wenn der Ausbau des öffentlichen Verkehrs zur nationalen Priorität erklärt und der Privatverkehr gleichzeitig durch entsprechende Straßenbenutzungsabgaben und weitere Maßnahmen beschränkt wird, die sich in anderen größeren Städten als erfolgreich erwiesen haben.

Grund der Anarchie in Lagos ist letztlich die allgemeine Überzeugung, das Leben sei ein gnadenloser Wettkampf, in dem man tritt oder getreten wird. Auf den Straßen reproduzieren wir unseren Kampf um Aufträge, Beamtenposten, Lizenzen und andere Vergünstigungen, etwas, was der verstorbene nigerianische Sozialwissenschafter Claude Ake als unseren „militanten Materialismus“ bezeichnet hat. Und wie in anderen Bereichen unseres nationalen Lebens (und ähnliche Entwicklungen lassen sich in vielen Teilen der Welt beobachten) bezahlen wir kollektiv einen sehr hohen Preis für diesen Materialismus, in Form verlorener Menschenleben, vergeudeter Zeit und der hohen Kosten importierter Fahrzeuge. Diese Kosten sind zu offensichtlich, um von irgendjemand übersehen zu werden. Doch die Kultur des Individualismus setzt sich mit Leichtigkeit gegen rationale politische Entscheidungen durch. Sobald wir uns auf den Drang einlassen, schneller zu sein und mehr zu verdienen als alle anderen, scheinen wir unseren Verstand zu verlieren. Und dabei bleiben wir in selbstverschuldeten Verkehrsstaus stecken, während rund um uns das 21. Jahrhundert in Bewegung kommt.

copyright New Internationalist

Ike Oguine ist Schriftsteller und Kolumnist des New Internationalist. Er lebt in Lagos.

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