Abend in Hargeisa, Hauptstadt der selbst erklärten Republik Somaliland. Aus den Lautsprechern der zahlreichen Moscheen ertönen die Stimmen der Muezzins. Sie rufen zum vorletzten Gebet des Tages in einem mehrheitlich islamisch geprägten Gebiet. Die Religion gehört, wie Edna Aden betont, zu dem Wenigen, das diese Region am Horn von Afrika mit ihrem südlichen Nachbarn Somalia teilt. Die Außenministerin Somalilands ist eine der lautesten Stimmen im Bemühen um internationale Anerkennung. Wie viele andere wehrt Aden sich energisch dagegen, mit Somalia über einen Kamm geschoren zu werden. „Das hier ist Somaliland, nicht Somalia“, lautet die häufigste Reaktion, wenn man auf die Nachsilbe „-land“ vergisst.
„Über dreißig Jahre haben wir uns bemüht, gemeinsam mit dem südlichen Teil Somalias und der Region Puntland ein Vereintes Somalia aufzubauen. Doch mussten wir einsehen, dass diese Union nicht lebensfähig ist“, erläutert Edna Aden die Geschichte ihres Landes. Dabei deutet sie immer wieder auf die Landkarte im hinteren Winkel des Raumes, die das Gebiet in seinen ehemaligen Grenzen als britisches Protektorat zeigt. Bei seiner Unabhängigkeit am 26. Juni 1960, bevor es eine Union mit dem Süden einging, wurde Somaliland von 35 Ländern als eigenständiger Staat anerkannt. Die Idee eines vereinten Somalia, vor 45 Jahren noch von weiten Teilen der Bevölkerung im Norden und Süden unterstützt, gilt heute als gescheitert. Damals wurde die Integration der beiden Regionen durch die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen erschwert, wie sie unter anderem im Bildungs-, Verwaltungs- und Rechtssystem bestanden. Unter der Alleinherrschaft Siad Barres ab 1969 erreichte die Zentralisierung der Macht ihren Höhepunkt. Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung kam besonders im Norden zum Erliegen. Ein Mahnmal im Zentrum Hargeisas, verrostete Panzerwagen entlang der Landstraßen und zerstörte Gebäude erinnern an das bittere Erbe des Bürgerkriegs, den Barres Sturz 1991 einleitete.
Die Wege der Regionen konnten seither nicht unterschiedlicher verlaufen: Der Norden erklärte sich noch im selben Jahr für unabhängig. Im Gegensatz zum Süden, der bis heute keine Zentralregierung hat, bemühte sich die Führung um eine rasche Einigung der Clans. International kaum beachtet haben eine Anzahl lokal initiierter Friedensgespräche in einen Staat gemündet, der sich trotz bewaffneter Kämpfe zwischen 1993 und 1996 als lebensfähig erwiesen hat. Die anfangs geringe internationale Aufmerksamkeit wird besonders von Teilen der älteren Bevölkerung als Vorteil gesehen, wie Suleiman Mohammoud Adan, Sprecher der Guurti, des Ältestenrates, erklärt: „Durch das fehlende Interesse konnten wir uns soviel Zeit nehmen wie nötig war, um eine Einigung zu erzielen.“ Schritt für Schritt wurden traditionelle Strukturen durch demokratische Einrichtungen ersetzt. Ein Verfassungsreferendum, Gemeinde- und Präsidentschaftswahlen stellen neben dem Aufbau einer funktionierenden Regierung die wichtigsten Meilensteine dar.
Die Parlamentswahlen Ende September sind jüngster Beweis für den Einsatz zugunsten eines demokratischen Staats: Trotz begrenzter Ressourcen und nicht vorhandenem WählerInnenregister gelang es den politischen Autoritäten Somalilands, Wahlen zu organisieren, die ein internationales Beobachterteam als „durchaus frei und fair“ beurteilte. Die drei Parteien, die zur Wahl antraten, legten sämtlich Wert darauf, Zusammenstöße zu vermeiden. Das Ergebnis, zwei Wochen später veröffentlicht, zeigt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den beiden Oppositionsparteien mit je 28 und 23 Sitzen und der Regierungspartei mit 33. Trotz kleiner Einwände haben es alle Parteien anerkannt, nicht zuletzt um die internationale Anerkennung des Landes voranzutreiben.
Weniger ausgewogen ist das Verhältnis von Frauen und Männern im neu gewählten Parlament. Nur zwei von insgesamt sieben Kandidatinnen erzielten genügend Stimmen für einen Parlamentssitz. Zwar ist der Einzug von Frauen an sich schon ein wichtiger Schritt für das Land. Doch zivilgesellschaftliche Gruppen und Frauenorganisationen zeigen sich enttäuscht, wie die Sprecherin der lokalen Dachorganisation NAGAAD, eines Konsortiums von Frauengruppen, ausführt: „Frauen haben eine substanzielle Rolle beim Wiederaufbau des Landes gespielt. Seit zehn Jahren bemüht sich unsere Organisation, Frauen in Führungspositionen und Entscheidungsgremien des Landes zu integrieren. Eine Quote hätte uns geholfen, unserem Ziel näher zu kommen. Nun müssen wir warten und hoffen, für die nächsten Wahlen einen gesetzlich festgelegten Frauenanteil zu erreichen.“
Neben der Diskriminierung von Frauen im öffentlichen und privaten Raum bleiben weitere Hürden zu überwinden. Ein Großteil der Bevölkerung lebt in absoluter Armut, der Zugang zu Bildungseinrichtungen ist besonders in ländlichen Gegenden eingeschränkt und die Arbeitslosigkeit hoch. Schon bei der Fahrt vom Flughafen in die Stadt fällt ein weiteres Symptom ins Auge: Unzählige bunte Plastiktüten, verfangen in den Ästen der spärlichen Bäume und Dornsträucher erzählen von Hargeisas Müllproblemen. „Somaliland Flowers“ werden sie liebevoll-ironisch von der Bevölkerung genannt. Sie verweisen zugleich auf ein anderes Problem: den Konsum von Khat, einer leichten Kaudroge, der unter der männlichen, erwachsenen Bevölkerung weit verbreitet ist. In bunte Plastiksäcke eingerollt wechselt das „grüne Gold“ den Besitzer. Nachts füllen sich die Teestuben, Mefrishe genannt, mit Besuchern, während entlang der Straßen gefeilscht, verkauft und gekauft wird. Es sind in erster Linie Frauen, die mit dem aus Äthiopien importierten Khat handeln. Diskussionen um ein Teilverbot von Khat finden bei ihnen wenig Anklang. „Wir wollen nicht, dass Khatkonsum verboten wird – es ist unser einziges Einkommen“, so eine ältere Frau in Hargeisa. Doch die hohe Arbeitslosenrate führt dazu, dass die Konsumenten zunehmend jünger werden. „Die meisten meiner Schulkollegen kauen: Aus Langeweile, da sie keine Arbeit haben, und weil sie es bei ihren Vätern sehen. Kaum jemand hinterfragt Khat kritisch – Khatkonsum ist Teil unserer Gesellschaft.“ Mit seiner Kampagne gegen den Konsum von Khat steht Mohammed, Vorsitzender einer lokalen Jugendgruppe, allein da.
Die Fahrt ins Zentrum lässt aber auch positive Entwicklungen der vergangenen Jahre sehen: GoldverkäuferInnen und Geldwechsler bevölkern den Straßenrand und demonstrieren die öffentliche Sicherheit Somalilands. Diebstähle sind selten in Hargeisa, und in ländlichen Gegenden kaum bekannt. Polizisten regeln den Verkehr an kritischen Kreuzungen und sorgen für die Einhaltung des Waffenverbotes im öffentlichen Raum. Die Zahl der Internet- und Mobiltelefonanbieter ist in den vergangenen Jahren gestiegen, und Cybercafés sind wie die Mefrishes beliebte Treffpunkte.
Hunderte von Baustellen insbesondere am Stadtrand zeugen von den steigenden Investitionen im Ausland lebender SomaliländerInnen. Während bi- und multilaterale Entwicklungsgelder in den Jahren nach dem Zusammenbruch Somalias primär im Süden verteilt wurden, kam Unterstützung für den Wiederaufbau im Norden von innerhalb des Landes und aus der Emigration. Dank Telefon, Internet und leistbarer Flugverbindungen existieren starke Netzwerke zwischen SomaliländerInnen im Ausland und innerhalb des Landes. Während der Sommermonate strömen viele ins Land zurück, Stadtviertel wie „New Hargeisa“ sind beinahe ausschließlich in dieser Zeit bewohnt. Aber auch eine wachsende Anzahl von höheren Bildungseinrichtungen, Gesundheitszentren und weiteren öffentlichen Einrichtungen geht auf private Unterstützung aus dem Ausland zurück. Oft sind es zurückgekehrte SomaliländerInnen, die private Unternehmen gründen und zum Aufbau öffentlicher Einrichtungen beitragen.
Auch internationale Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend in Somaliland niedergelassen, darunter World Vision, Safe the Children, Oxfam und Care. Doch ihre Anwesenheit wird nicht ohne Kritik gesehen – zu lange musste das Land auf solche Unterstützung warten. Hinzu kommt die offensichtliche Frustration wegen der ausbleibenden internationalen Anerkennung. „Wir könnten weit mehr für unser Land erreichen, wenn wir Mitglied der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen wären. Ohne Anerkennung bleiben die Türen für beide Organisationen verschlossen“, klagt Suleiman Adan, der Sprecher des Ältestenrates. „Journalisten neigen zu der Frage, was unser nächster Schritt sein wird. Wir finden, dass die Schritte, die wir bisher unternommen haben, für eine Anerkennung ausreichen. Es ist die internationale Gemeinschaft, die den nächsten Schritt machen muss.“ Äthiopien, Dschibuti und Südafrika pflegen inoffizielle Kontakte mit Hargeisa, und die Afrikanische Union hat im Juni eine Delegation nach Somaliland entsandt. Doch wann der Staat offiziell anerkannt wird, weiß niemand.
Ein Somali-Sprichwort sagt, dass ein stilles Kind wenig Aufmerksamkeit von seiner Mutter erhält. Ähnlich den Muezzins, die täglich ihre Gebete über die Viertel Hargeisas verbreiten, nutzen die Leute jede Gelegenheit, um ihr Anliegen kundzutun. „Wenn du nach Hause zurückkehrst, erzähle den Leuten von Somaliland. Vom Frieden und von unseren Entwicklungen.“ Mit seinen Worten drückt der junge Kellner in einem Restaurant in Hargeisa die Hoffnung seines Landes aus: gehört zu werden und sein größtes Ziel, die internationale Anerkennung, zu erreichen.