Viele KritikerInnen der Globalisierung schenken den Weltbankdaten zur Einkommensarmut keinen Glauben. Einiges spricht dafür, dass sie zumindest unzuverlässig sind.
Wir hören und lesen es immer wieder: Eines der Entwicklungsziele, die auf dem Millenniumsgipfel im Jahr 2000 festgesetzt wurden, könnte wahrscheinlich erreicht werden – die Halbierung des Anteils der Menschen in Entwicklungsländern, die in extremer Einkommensarmut leben, zwischen 1990 und 2015. Wächst die Wirtschaft im Süden weiter wie bisher, schätzt die Weltbank, würden 2015 nur mehr ca. 600 Mio. Menschen (ca. 10% der Bevölkerung) mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen müssen, während es 1990 noch 1,2 Mrd. (28%) waren.
Diese positive Entwicklung wäre in erster Linie China und Indien zu verdanken, während in Afrika südlich der Sahara eher ein Stillstand drohe: Dort dürfte der Anteil der extrem armen Bevölkerung bis 2015 nicht um die Hälfte auf ca. 22% sinken, sondern nur auf 38,4%. Die Zahl der betroffenen Menschen würde sogar von 230 auf 360 Mio. zunehmen.
Die Zielerreichung wäre wenigstens ein Teilerfolg – wenn auch ein „aufgelegter“. Als dieses Millenniums-Entwicklungsziel (MDG) definiert wurde, war die „Armutslücke“ – die Differenz der durchschnittlichen Einkommen der extrem Armen zur 1-Dollar-Grenze – in den bevölkerungsreichsten Ländern der Welt bereits auf wenige Prozent gesunken: in China (2001) auf 3,9 Prozent, in Indien (1999) auf 7,2% und in Südostasien auf 1,7%. Es war daher absehbar, dass schon ein geringes Wirtschaftswachstum ausreichen würde, um bis 2015 Dutzende Millionen Menschen aus dieser statistischen Kategorie zu befreien.
Ob es Grund gibt, eine Zunahme des Einkommens etwa von 0,95 auf 1,05 Dollar pro Tag binnen 25 Jahren als Erfolg in der Armutsbekämpfung zu feiern, ist eine Frage. Eine andere ist, ob die Armutsdaten der Weltbank die Wirklichkeit korrekt widerspiegeln – oder ob sie sie verzerren, die Armut vielleicht sogar unterschätzen. Das vermutet – als einer unter vielen kritischen WissenschaftlerInnen – auch der Ökonom Sanjay Reddy von der Colombia University in New York. Reddy’s Kritik1) bezieht sich sowohl auf die verwendeten Ausgangsdaten, ihre Umrechnung in „internationale Dollars“ (um die unterschiedliche Kaufkraft eines US-Dollar in jedem Land zu berücksichtigen) als auch die Methoden zur „Auffüllung“ der erheblichen Datenlücken. Werden etwa statt eines generellen Warenkorbes nur die Brot- und Getreidepreise herangezogen, ergibt sich laut Reddy in ärmeren Ländern eine im Schnitt um 26% höhere Armutsrate. Wechselt die Weltbank das Basisjahr zur Berechnung der Kaufkraftparitäten (wie Ende der 1990er Jahre), ergeben sich merkwürdige Schwankungen: Lagen die Armutsraten in Mauretanien bzw. Nigeria 1999 jeweils bei ca. 31%, waren es im Folgejahr 3,2% bzw. 70%.
Ein Vergleich der Armutsdaten über Jahre hinweg erscheint damit unmöglich. Und noch dazu, so Reddy, tendiert die Berechnungsmethode der Weltbank dazu, die Armut systematisch zu unterschätzen. Denn die Armutsraten, die ursprünglich zumeist Ende der 1980er oder Anfang der 1990er Jahre erhoben wurden, werden einfach mit steigendem Wirtschaftswachstum nach unten korrigiert. Das unterstellt jedoch, dass sich die Einkommensverteilung nicht ändert. Tatsächlich zweifelt aber kaum jemand daran, dass die Ungleichheit seit den 1990er Jahren weltweit zunimmt.
Sind die Weltbankdaten unverlässlich, dann sind es auch andere „offizielle“ Daten. Etwa die Zahlen über die „Working Poor“ in Entwicklungsländern, die seit einigen Jahren von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) veröffentlicht werden, säuberlich getrennt nach den beiden Armutskategorien unter einem bzw. zwei Dollar pro Tag. Darin stellt die ILO die selben Trends fest wie die Weltbank – was kein Wunder ist: Auch die ILO ist mangels Alternativen auf die Armutsdaten der Weltbank angewiesen.
Tatsächlich ist die Problematik der Erhebung und des internationalen Vergleichs von Einkommensdaten anerkannt. Auch im „Millennium-Projekt“, dem unter Führung des US-Ökonomen Jeffrey Sachs erstellten Plan zur Realisierung der MDGs, wird darauf hingewiesen – und auf den Umstand, dass die 1-Dollar-Grenze außerdem auch das Ausmaß der städtischen Armut unterschätzt. Im Millennium-Projekt wurde daher „absolute“ Armut anhand von Daten über die Kindersterblichkeit unter fünf Jahren (höher als 80/1.000) und Unterernährung (Kinder mit mehr als 20% Untergewicht) definiert, die als weit verlässlicher gelten.
Sollte also die Einkommensentwicklung einfach ignoriert werden, weil es keine verlässlichen Daten gibt? Nein, sagt Reddy. Er plädiert vielmehr dafür, auf internationaler Ebene einen gemeinsamen Maßstab für die Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse – etwa das Ziel einer angemessenen Ernährung – und entsprechende länderspezifische Armutsschwellen zu definieren und zu überwachen. Dass dies bisher nicht geschehen ist, hält Reddy für ein Zeichen der geringen Priorität, die dem Problem der Armut tatsächlich zugeschrieben wird.
1) Sanjay Reddy und Thomas W. Pogge, How not to count the Poor, Oktober 2005.
www.columbia.edu/~sr793/count.pdf