Das offizielle China hat mit Chongqing viel vor: Die flächenmäßig größte Stadt der Welt soll ein Vorbild für Fortschritt jeder Art werden.
Chongqing liegt am Beginn des gigantischen Drei-Schluchten-Stausees. Das macht die Stadt wirtschaftlich attraktiv. In den 1990er Jahren, als das Dammprojekt am Jangtse allmählich konkrete Gestalt annahm, war Chongqing eine stinkende, ölige, rauchige Stadt.
Im Jahr 2000 verdienten chinesische StadtbewohnerInnen durchschnittlich dreimal mehr als Bauern und Bäuerinnen, im Jahr 2010 schon das Fünffache – viel gesellschaftlicher Sprengstoff, weil sich der Reichtum des Ostens nicht mehr verbergen ließ und auch in den Steppen Gansus und den Wüsten Xinjiangs TV-Thema war. Die „Go-West-Politik“ sollte Industrie und Wohlstand daher schnell ins Landesinnere bringen und eine Abwanderung nach Shanghai oder Shenzhen sich nicht mehr rechnen. Das Programm wurde 1999 gestartet. Es umfasst sechs Provinzen, fünf autonome Regionen und mit Chongqing eine Stadtregion. Sie ist der „Drachenschwanz“ im Westen des 600-km-Stausees am Jangtse. Der Frachttransport zum „Drachenkopf“ Shanghai hat sich vervielfacht. Bisher wurden 180 Milliarden Euro in das Go-West-Vorhaben gesteckt, allein in Chongqing 1,2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. 300 Unternehmen haben dort Wirtschaftsbeziehungen mit 140 Ländern aufgenommen. Die ländlichen Regionen profitieren weiterhin wenig.
In Chongqing wurde der generalstabsmäßige Wandel von der dreckig-grauen Stahlstadt zur nachhaltig-grünen Muster-Metropole in Angriff genommen, nicht ohne Grund. Im Winter legt sich für Monate Nebel über das hügelige Häusermeer am Zusammenfluss von Jangtse und Jialing, wo die Smogglocke seit den (Schwer-)Industrieansiedlungen der 1950er Jahre auch im Sommer kaum je verschwindet. Noch 1999 waren Regenschirme nach einigen Wochen durch den sauren Regen unbrauchbar. Selbst 2004 enthielt die Stadtluft noch sechsmal mehr krebserregende Stoffe als die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation zulassen.
Das sollte sich rasch ändern. Und so werden die innerstädtischen Kohlekraftwerke und Zementfabriken sukzessive ins Umland ausgelagert, mit politischem Druck und steuerlichen Anreizen: Bei Chongqing Iron & Steel kostete es fünf Jahre und drei Milliarden Euro, bis dieser Schlüsselbetrieb endlich aus dem Zentrum draußen war. Auf dem alten Firmengelände entstehen jetzt Apartmentblocks für Softwarefirmen, und die lokale Kunstszene hat schon ihr Interesse an den Schornsteinen angemeldet.
Alt ist schick geworden, zumindest in Jiangfangbei, dem Stadtzentrum rund um das Denkmal der Befreiung, wo immer noch Schmorfrosch und Schweineschnauzen, Tigerfellschoten und Schlangenbohnen mit Ingwer um ein paar Yuan gegart werden – vor den getönten Scheiben von Armani- und Ferrari-Outlets. Abends, wenn der Smog sich mit den Nebeln unten vom Fluss vermischt, verschwindet das reiche und schöne China unter der Erde: in den Hot Spots des Nightlife wie 023Bar oder Sohu Club, wo eine Flasche Johnnie Walker Gold Label so viel kostet wie einer der Wanderarbeiter in einem Vierteljahr verdient. Doch die schlafen um die Zeit schon, in irgendeinem Baucontainer am Rande der Stadt. Oder daneben.
Chongqing hat als eine von vier Städten, die der Zentralregierung direkt unterstellt sind, alle Freiheiten, die die Kommunistische Partei bieten kann – ein gewaltiges Freiluftlabor stadt- und sozialgeographischer Visionen, wo kein Stein auf dem anderen bleibt und Widerspruch immer noch als Volksverrat ausgelegt wird. 1997 wurde die Stadt Chongqing aus der Provinz Sichuan ausgegliedert und gemeinsam mit 43 Umlandgemeinden zur regierungsunmittelbaren Stadtgemeinde erklärt. Die Fläche des neuen Konglomerats entspricht mit etwa 83.000 qkm der Österreichs, beherbergt 33 Millionen Menschen und gilt als (flächenmäßig) größte Stadt der Welt. In der eigentlichen Kernstadt leben bloß rund fünf Millionen. Viele sind nicht freiwillig da, weil sie im Zuge des Dammbaus ab 2003 zwangsumgesiedelt wurden; weitere vier Millionen MigrantInnen werden bis 2020 erwartet.
Die Stadtregierung hat sichtlich kaum Interesse daran, der suburbanen Zersiedlung bauwütiger Immobilienkonzerne Einhalt zu gebieten: Diese haben, quasi nebenbei und nicht unerwünscht, das Stadtzentrum von den Bangbangjun befreit, Heerscharen zerlumpter Bauern aus ganz Westchina, die früher überall darauf warteten, mit ihren Bambus-Tragestangen CD-Player und Mehlsäcke vom Hafen in die Stadt und umgekehrt zu schleppen. Die „Armee der Stöcke“ in braungrünen Stoffturnschuhen und zerschlissenen Militärjacken wird derzeit dringend für die Errichtung neuer gesichtsloser Glas-Beton-Türme benötigt, die im Stadtgebiet überall aus den Hügeln schießen.
Dazu kommen offiziell rund 500.000 ungelernte und volkswirtschaftlich „überflüssige“ IndustriearbeiterInnen, die mit Bauen und Betonieren beschäftigt werden, um soziale Unruhen im Keim zu ersticken. Eine Million Kameras sollen in Hinkunft Chongqings Straßen kontrollieren, gesteuert und überwacht von mobilen Polizeitrupps mit brandneuen Laptops made in town.
Zumindest auf dem Papier gibt es zahlreiche Ziele für eine umweltfreundliche Entwicklung. Neue Stadtteile sollen neben modernsten Fabriken und Bürogebäuden auch Wohnhäuser erhalten und sich durch kurze Wege, viel Grün und eine hohe Lebensqualität auszeichnen. Deutschland ist im Moment dabei behilflich, eine solche Green City zu errichten, mit energieeffizienten Bauten, erneuerbarer Energieversorgung, Fahrspuren für Elektroautos, Stromtankstellen und Material sparendem Design. Damit will man vor allem internationale mittelständische Unternehmen aus dem Bereich Umwelt- und Antriebstechnik anziehen.
Ob solche Pläne im großen Stil umgesetzt werden können, ob überhaupt das Konzept einer nachhaltigen Megacity von oben Zukunftschancen hat, wird sich erst zeigen. Im März 2012 musste der Stadtparteichef Bo Xilai, der populistische Kämpfer gegen Korruption und Kriminalität, zurücktreten. Mit seiner Entmachtung ist auch die Entwicklung der Stadt ungewiss geworden, denn Bo Xilai war maßgeblich und äußerst durchsetzungskräftig an der Realisierung der Visionen des „Chongqinger Modells“ beteiligt gewesen. Wie in der gesamten Volksrepublik China ist auch hier die kritische Mitgestaltung durch die Bevölkerung nicht erwünscht. BürgerInnenbefragung, Basisdemokratie, Umweltverträglichkeitsgutachten etc. sind keine Parameter chinesischer Entscheidungsfindung. Sie werden vielfach als störend, ja systemschädigend empfunden.
Verlierer dieses Entwicklungsmodells sind in den meisten Fällen die Umgesiedelten sowie alle ohne „Draht zum Staat“. Ihre Wünsche und Bedürfnisse müssen einem „größeren nationalen Wohlergehen“ weichen. Gewinner sind geschickte Geschäftsleute, Bevölkerungsgruppen aus der White-Collar-Verwaltung und jene besser Ausgebildeten, die bei internationalen Firmen, Architekturbüros etc. Jobs und gute Bezahlung finden. Auch WanderarbeiterInnen sehen ihre finanzielle Lage zumindest so lange verbessert, als sie auf Grund des Baubooms ein Einkommen haben. In der abgelegenen Heimatprovinz gibt es für sie noch weniger Perspektiven.
Günter Spreitzhofer ist Geograph und unter anderem Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien.
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