Viele haben es bisher noch gar nicht bemerkt: Das Jahr 2008 wurde von der UN-Generalversammlung zum „Internationalen Jahr der Sprachen“ erklärt. Zugleich ist dieses Jahr auch das „Internationale Jahr des Planeten Erde“. Weder für unsere Sprachen noch für unseren Planeten ist diese Nominierung ein gutes Zeichen, geht es doch in beiden Fällen um Bedrohungen.
Von den rund 6.000 gesprochenen Sprachen auf der Welt wird vermutlich ein Drittel in den nächsten Jahrzehnten "aussterben". Allgemein wird in diesem Zusammenhang auf die sehr unterschiedlichen Sprecherzahlen verwiesen: Neben ganz wenigen "Riesen" (mit über 100 Millionen SprecherInnen) gibt es sehr viele "Zwerge" (mit bis 1.000 SprecherInnen) (siehe Informationskasten auf Seite 28).
Die Vermutung liegt nahe, dass diese Zwerge automatisch die bedrohtesten Sprachen sind. So einfach ist die Sache aber keineswegs: Bei der Frage nach der "Vitalität" einer Sprache kommt ein ganz anderer wichtiger Faktor ins Spiel, die Frage nämlich, ob die Sprache der Eltern auch die Muttersprache der Kinder ist. So mag die Situation des Bretonischen in Frankreich mit einer Sprecherzahl zwischen 250.000 und 300.000 zunächst gar nicht bedrohlich erscheinen, die geringe Vitalität zeigt sich aber angesichts des Alters der SprecherInnen: Die deutliche Mehrzahl hat bereits das Rentenalter erreicht.
So konsensfähig ein allgemeiner Aufruf zum Schutz bedrohter Sprachen ist, so schwierig wird es bei der Frage nach konkreten Maßnahmen. Vielfach wird gar prinzipiell die Möglichkeit angezweifelt, mit sprachenpolitischen Maßnahmen wirksam in das "Leben und Sterben" von Sprachen einzugreifen. Diese naturalisierende Redeweise ist jedoch völlig unangemessen: Während es nämlich dem Planeten Erde ohne Menschen vermutlich viel besser ginge, gäbe es ohne Menschen überhaupt keine Sprachen, wie es auch keine Kirchen, Schlösser und Paläste gäbe, die die UNESCO mithilfe des Titels "Weltkulturerbe" zu schützen versucht. Beide, Bauwerke und Sprachen, sind Produkte und Instrumente menschlicher Kultur, jede einzelne ist ein fait social und ein Politikum, Sprache ist der anthropologische Gegenstand par excellence, aber niemals ein ums Überleben kämpfender Organismus.
Eine "tote" Sprache wäre also eine Sprache, die nicht mehr gesprochen wird. Nur ausnahmsweise fällt ein so genannter "Sprachtod" mit dem Tod der SprecherInnen zusammen. Ist die romanische Sprache Dalmatisch also tatsächlich erst am 10. Juni 1898, dem Todestag des Herrn Anton Udina als letztem Sprecher dieser Sprache, ausgestorben? Schließlich konnte er in dieser Sprache mit niemandem mehr sprechen, seine FreundInnen und Verwandten auf der kroatischen Insel Krk hatten sich bereits lange zuvor für eine andere Sprache entschieden – wie man sich für einen Umzug in ein anderes Bauwerk entscheidet. Gründe für einen Sprachwechsel gibt es so viele wie für einen Ortswechsel, aber der oft treffende Vergleich zwischen Sprachen und Häusern hinkt in einer Hinsicht: Sprachwechsel sind immer mit einer Phase der Zweisprachigkeit verbunden, die sich über mehrere Generationen erstrecken kann. Kein Mensch zieht aus einer Sprache aus, ohne nicht zuvor schon MitbewohnerIn in einer anderen gewesen zu sein, es sei denn, er/sie entscheidet sich für das Verstummen. Auch Herr Udina hat bis zu seinem Tode gesprochen, nur eben nicht auf Dalmatisch.
Warum entscheiden sich SprecherInnen für die eine und gegen die andere Sprache? SprachwissenschaftlerInnen sprechen hier gern vom "Kommunikationswert" einer Sprache. Nur sehr bedingt fallen bei diesem Wert allerdings die individuellen Charakteristika der betroffenen Sprache, die von der UNESCO als jeweils einzigartige schützenswerte Kreationen des menschlichen Geistes angesehen werden, ins Gewicht. Menschen wechseln ihre Sprache aus beruflichen Gründen, wegen politischen Drucks und vielem mehr. Der "Kommunikationswert" geht über die Sprachwissenschaft hinaus und führt in die Geschichte, Soziologie, Ökonomie und Politologie hinein. Aber in diesen Fachdisziplinen landet man ja schon bei der scheinbar simplen Frage nach der Anzahl der Sprachen dieser Welt.
Dem Sprachwissenschaftler Max Weinreich wird der häufig zitierte Satz zugeschrieben: "Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine." Ein Blick auf europäisches Sprachenterrain genügt, um die Intention dieser scheinbar skurrilen Aussage zu erfassen: So hat Luxemburg im Jahre 1984 das Luxemburgische zur Nationalsprache (neben Französisch und Hochdeutsch) erhoben. Rein sprachlich gehört das Luxemburgische zu den moselfränkischen Varietäten, SprachwissenschaftlerInnen sprechen hier von einem "Dialektkontinuum". Dieses Beispiel zeigt – neben der politischen Dimension der Unterscheidung von Sprache und Dialekt – auch die beiden Möglichkeiten auf, die sich bei Verschiedenheiten zwischen ähnlichen Sprachformen überall bieten. Regionale Sprachformen können einander fremd gemacht werden (z.B. durch unterschiedliche Sprachbezeichnungen, unterschiedliche Schriften), sie können aber auch zusammengehalten werden in der Absicht, eine – durchaus in sich regional differenzierte – Sprachgemeinschaft zu bilden.
Neben dem bekannten Beispiel von Serbisch und Kroatisch nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren sind auch die Sprachen Urdu und Hindi hier beispielhaft: Urdu, die mit arabischer Schrift geschriebene Amtssprache Pakistans, und das in Devanagari geschriebene Hindi stellen in sprachdeskriptiver Perspektive nur eine und nicht zwei Sprachen dar.
Insbesondere den meist vielsprachigen postkolonialen Staaten blieb angesichts massiver Sprachprobleme gar nichts anderes übrig, als an Effekte sprachenpolitischer Maßnahmen zu glauben: Drängend war insbesondere die Frage nach Beibehaltung, Integration oder Ersatz der kolonialen Sprachen in überregionalen Verwendungszusammenhängen.
Von Riesen und Zwergen
Sprache |
Anzahl der MuttersprachlerInnen | Anzahl der ZweitsprachlerInnen |
Chinesisch | 1,139 Mrd. | 71 Mio. |
Englisch | 337,4 Mio. | 235,6 Mio. |
Hindi | 182 Mio. | 236 Mio. |
Spanisch | 266 Mio. | 86 Mio. |
Deutsch | 96,5 Mio. | 4,5 Mio. |
Weitere große Sprachen: Russisch, Arabisch, Bengalisch, Portugiesisch, Indonesisch, Französisch. Es gibt zirka 2.000 Zwergsprachen mit nicht mehr als 1.000 SprecherInnen.
Quelle: Haarmann, Harald (2001): Babylonische Welt. Geschichte und Zukunft der Sprachen. Frankfurt, Campus
Legendär ist die Position Léopold Sédar Senghors, des Dichters und ersten Präsidenten des Senegal, für den Entkolonialisierung einerseits und Beibehaltung der französischen Sprache andererseits keinerlei Widerspruch darstellten. Ganz im Gegensatz hierzu steht die ebenso berühmte Position des kenianischen Schriftstellers Ngu˜gi˜ wa Thiong'o, der keine Möglichkeit der Entkolonialisierung des Geistes ohne einen Umzug aus der Kolonialsprache Englisch sah und seine Literatur seit 1978 nur noch in seiner Muttersprache Kikuyu verfasst. Damit leistete er zwar einen entscheidenden Beitrag zur Verschriftung dieser Sprache, aber er musste auf Übersetzungen seiner Werke (insbesondere ins Englische) setzen, denn schließlich braucht ein Schriftsteller ein (möglichst großes lesekundiges) Publikum. Aber selbst die meisten Kikuyu greifen zum Lesen (und selbst zum Sprechen), wenn nicht auf Englisch, so auf Swahili zurück, das durch gezielte sprachenpolitische Maßnahmen zur größten afrikanischen Verkehrssprache in Ostafrika wurde.
Was im vielsprachigen Tansania gelang – die Kolonialsprache Englisch als überregionale Verkehrssprache durch eine afrikanische Sprache zu ersetzen – ist bekanntermaßen in Indien nicht gelungen. Das Englische ist zu einer Sprache Indiens geworden, wie es der Autor der "Satanischen Verse", Salman Rushdie, intendierte, wenn er zu einer Eroberung des Englischen als Prozess der Befreiung von der Kolonialmacht aufrief. Aber als überregionale Sprache Indiens steht das Englische zusammen mit Hindi neben ungefähr 400 Sprachen, die nicht nur zu ganz unterschiedlichen Sprachfamilien gehören, sondern sich auch einer Vielzahl von Schriften bedienen – wenn sie denn verschriftet sind. Selbst Hindi ist also keineswegs die Muttersprache der Mehrzahl der Inder, obgleich es die Sprache mit der größten Sprachgemeinschaft ist. Von der Gesamtheit der Sprachen haben (neben Hindi) noch 21 weitere Sprachen einen herausgehobenen Status als regionale Amtssprachen.
Was bedeutet dies nun insbesondere für die Bildung, die als einer der wichtigsten Orte sowohl der sozialen Integration als auch der Sprachenpolitik eines Landes angesehen werden kann?
Ähnlich wie in Europa wird zur Integration des vielsprachigen Staates Indien auf die Mehrsprachigkeit der BürgerInnen gesetzt. Für weiter führende Schulen sind drei Sprachen Pflicht, nämlich die regionale Sprache, Hindi und Englisch, was für die SprecherInnen aller anderen Sprachen zu einer Vier-Sprachen-Formel wird. Dennoch sollte das Lesen- und Schreibenlernen bei allen Menschen möglichst in der Muttersprache geschehen und nicht mit dem Lernen einer fremden Sprache verknüpft werden. Aber wenn die Muttersprache gar nicht verschriftet ist? Und ist der Erwerb von drei Sprachen neben der Muttersprache wirklich eine realistische Perspektive? Sprechen diese Probleme gar gegen den Schutz der sprachlichen Vielfalt? Nein – denn Sprachen dürfen nicht auf ihren Kommunikationswert reduziert werden. Weil sie Teil und Träger der vielfältigen menschlichen Kultur sind, wird von der UNESCO zu Recht zu ihrem Schutz aufgerufen.
Konsens ist: Wie die zum Weltkulturerbe ernannten Trulli (runde Steinhäuschen) in Apulien oder die Nuraghen (eine Art Trutzburgen aus vorchristlicher Zeit) auf Sardinien müssen Sprachen, die für ihre SprecherInnen unbewohnbar geworden sind, wissenschaftlich dokumentiert werden und so der Nachwelt erhalten bleiben. Hier ist für viele Sprachen größte Eile geboten.
Was zu diskutieren ist: Unbewohnbar werden die Sprachen aufgrund ihres Kommunikationswertes, und dieser ist eine gesellschaftliche Größe, auf den insbesondere die Ökonomie mit ihrem Bedarf an überregionalen Verkehrssprachen einwirkt. Sprachenpolitische Maßnahmen gegen diese Abwertung können nur in Zusammenarbeit mit den SprecherInnen Erfolg haben. Diesen müssen realistische Perspektiven der Zwei- und Mehrsprachigkeit aufgezeigt werden, damit sie ihre Muttersprachen ohne Sorge um gesellschaftlichen Ausschluss an ihre Kinder weitergeben. Hierzu sollten – vergleichbar mit Frauenbeauftragten – Sprachenbeauftragte oder SprachberaterInnen zu Rate gezogen werden, die gegen dreierlei Ideologien gefeit sind:
Brigitte Jostes ist Sprachwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin mit den Schwerpunkten Sprachenpolitik und sprachliche Bildung.
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