Sophiatowns später Triumph

Von Martina Schwikowski · · 2006/04

1955 ließ die Apartheidregierung das „Harlem Johannesburgs“ zwangsräumen, niederwalzen und nannte den Stadtteil fortan „Triompf“. Jetzt feiert das ehemals legendäre Viertel seinen neuen, alten Namen – BewohnerInnen von früher erinnern sich.

Jazz unter dem weißen Zeltdach, gefühlvolle Reden und viele alte Bekannte – so erlebt der 78-jährige Solly Ravat die Taufe des neuen alten Sophiatown, die vor wenigen Wochen in dem ehemals legendären Viertel Johannesburgs gefeiert wurde. Die grünen Ortsschilder tragen nach mehr als fünfzig Jahren wieder den Namen, der trotz seiner gewaltsamen Auslöschung während der Apartheid-Ära nicht nur früheren BewohnerInnen immer im Gedächtnis blieb. Das berühmte Wohnviertel, in dem alle ethnischen Gruppen außer den Weißen in enger Gemeinschaft lebten, war mit vielen Attributen und Liebeserklärungen versehen worden: das „Harlem Johannesburgs“ oder „Chicago Südafrikas“ galt als das kulturelle Herz der Stadt in den 1940er und 1950er Jahren. Bis das Apartheidregime im Februar 1955 mit 2.000 bewaffneten Polizisten anrückte und begann, die BewohnerInnen samt ihren Möbeln auf Lastwägen zu laden, in Townships umzusiedeln und ihre Häuser niederwalzte. „Triompf“ nannte die rassistische Regierung in Afrikaans den ihr verhassten Ort von da an. Weiße SüdafrikanerInnen zogen ein.
„Triumph – worüber?“, fragt Solly Ravat. „Dass sie uns wie Hunde vertrieben haben?“ Der Inder lebte dort mit seiner Mutter und den Großeltern, die Eigentum gekauft hatten. Das war für Farbige in Johannesburg nur in Sophiatown möglich. „Als die Polizei unser Dach abriss, wehrten wir uns. Wir wollten nicht umgesiedelt werden und kamen bei Freunden unter.“ Doch Nachbarn verpfiffen seine Familie, und Ravat wurde nach den Gesetzen der Rassentrennung zum Leben in einer für InderInnen vorgesehenen Siedlung gezwungen.
Der alte Mann kommt eigentlich ungern zurück, die Erinnerungen machen ihm zu schaffen. „Die Atmosphäre von damals gibt es nicht mehr“, sagt er und schaut auf die Wiese, wo vor kurzem das Festzelt stand und in Zukunft ein Erinnerungspark entstehen soll. Dort hat er vor kurzem eine Menge alter Bekannter umarmt. Solly kennt alle und alle kennen ihn als „Bra Odin“. Ein Spitzname, den er sich als junger Mann in Sophiatown verdiente, denn Solly Ravat leitete eines der beiden Filmhäuser: das Kino „Odin“. „Mit 1.250 Sitzen war es sicher das größte Lichtspielhaus in Afrika“, meint Ravat. „Filme waren zensiert, aber es gab viele Action-Streifen.“ Er veranstaltete Box-Kämpfe auf der Kino-Bühne und führte das Musical „King Kong“ auf, das Sängerin Miriam Makeba später berühmt machte.
Die Jazz-Szene blühte im Viertel, und Musiker wie Hugh Masekela starteten dort ihre Karrieren. Bands wie die „Harlem Swingsters“ und die „Manhattan Brothers“ nahmen den Einfluss der „Swinging Fifties“ auf und mischten den Sound mit Marabi- und Kwela-Musik aus Südafrika. Nelson Mandela unternahm dort seine ersten politischen Schritte. ANC-AktivistInnen lebten mit Gangstern Tür an Tür. Gangs wie die „Americans“ regierten das ärmliche Viertel und lieferten sich Revierkämpfe um die Sängerinnen in den illegalen Kneipen, den Shebeens. Wer nicht dort lebte, kam zu Besuch und zum Feiern. Mitunter – heimlich – zusammen mit einigen weißen FreundInnen. Das kleine Wohnviertel wurde zum Symbol für vereinigte Vielfalt in einer immer schärfer rassisch getrennten Gesellschaft.

Das Magazin „Drum“ war die Stimme des Stadtteils. Talentierte schwarze Autoren und spätere Schriftsteller wie Can Themba, Lewis Nkosi und Es’kia Mphahlele veröffentlichten darin ihre Texte. Der junge Henry Nxumalo erhielt als „Mr. Drum“ mit seinen Aufdeckungsgeschichten über Misshandlungen Schwarzer auf Farmen und in Gefängnissen von Chefredakteur Anthony Sampson, einem weißen Engländer, Titelseiten. So wandelte sich das Fotomagazin – berühmt für seine Pin-ups schwarzer Models – zu einer Anti-Apartheid-Stimme, respektiert bei Schwarz und Weiß. Heute bietet das Magazin keine sozialkritischen Artikel mehr, sondern einfache Unterhaltungs- und Modegeschichten für schwarze LeserInnen. Und Nxumalo sollte rund fünfzig Jahre später im Film „Drum“ in der Besetzung eines Hollywood-Schauspielers wieder Furore machen.
Fasziniert von der Ära hat der südafrikanische Filmemacher Zola Maseko den Journalisten in den Mittelpunkt seines 2004 entstandenen Films „Drum“ gestellt und – in eigenen Worten – „Südafrikas wichtigste politische, soziale und kulturelle Dekade“ aufleben lassen. Zehn Jahre brauchte er, bis seine Idee von US-Produzenten mit fünf Millionen US-Dollar finanziert wurde – unter der Bedingung, die Hauptrolle mit dem US-amerikanischen Schauspieler Taye Diggs zu besetzen, der wenig mit dem historischen Vorbild Henry Nxumalo gemeinsam hat. „Drum“ gewann den Pan-Afrikanischen Filmpreis und andere Auszeichnungen, wird jedoch in Südafrika kontrovers diskutiert.

Ravat fand den Film enttäuschend und unhistorisch. Zu real ist für ihn diese Vergangenheit. Eher sind es die Nachkommen der früheren Sophiatown-BewohnerInnen, die in ihrer Fantasie die Realität überflügeln, glaubt auch Ex-Drum-Fotograf Jürgen Schadeberg, der in jungen Jahren als Deutscher nach Südafrika kam.
Einer aus dieser jungen Generation ist Jerry Masoleng. Der 29-Jährige ist von „Sof’town“ bzw. „Koffifi“ gefesselt, wie das Viertel auf Setswana genannt wurde: „Ort der Dunkelheit“, da es keine Straßenbeleuchtung gab. Die Leidenschaft für eine nicht erlebte Zeit hat Masoleng sogar bewogen, in den Stadtteil zu ziehen. Der ist noch überwiegend weiß, zieht aber auch andere Gruppen wieder an. Genährt wurde Masolengs Nostalgie durch die Erzählungen der Eltern. Sie wurden damals während der acht Jahre lang andauernden Zwangsräumungen nach Meadowlands gekarrt, dem neuen und später zu Soweto umbenannten Township. Als Teenager lernte Jerry „Tsotsi-taal“, den Gangster-Straßenslang von Sophiatown und Soweto, und besuchte regelmäßig die „Church of Christ the King“, in der seine Eltern damals von Trevor Huddleston getauft worden waren.

Der anglikanische Priester, Anti-Apartheid-Aktivist und spätere Erzbischof gilt über seinen Tod 1998 hinaus als Idol der Menschlichkeit bei Jung und Alt: „Er hat sich hier um jeden gesorgt und gegen Apartheid gekämpft“, sagt Ravat und fügt melancholisch hinzu: „Er hatte von Duke Ellington eine Trompete für den jungen Schüler Hugh Masekela besorgt.“ Und Huddleston war ein enger Freund des Drum-Teams. Nach der Zwangsräumung kam der engagierte Priester in Konflikt mit den politischen Autoritäten und wurde 1956 nach England zurückberufen. Als Präsident Thabo Mbeki nach Huddlestons Tod seine Urne wunschgemäß nach Johannesburg holte, waren Solly Ravat und auch Jerry Masoleng bei der Beisetzungsfeier dabei. Heute verwaltet Masoleng das Erbe von Sophiatown im Trevor Huddleston-Gedächtnis-Zentrum, einem früheren Waisenhaus. Das Zentrum soll im Sinne des Namensgebers junge Menschen für Kunst und Kultur begeistern, sagt Masoleng. Er zählt zu den KünstlerInnen, die dort im Atelier lernen und ausstellen.
Die ehemalige Kirche des rührigen Priesters beherbergt heute wieder eine gemischte Gemeinde, nachdem sie dazwischen von der extrem konservativen Niederländisch-Reformierten Kirche der Buren verwaltet worden war. Als Solly Ravat dort mit Jerry Masoleng einkehrt, trifft er auf Maria Madiba, Sekretärin des heutigen Pastors. „Bist Du nicht Bra Odin?“, fragt sie zögernd und Solly schießen Tränen in die Augen. Sie umarmen einander und tauschen Anekdoten aus. Die 60-jährige Maria Madiba war ein kleines Mädchen, als sie – hinter den Erwachsenen versteckt – ins Odin schlich. Sie und Ravat hatten beide im gleichen städtischen „Swimming-Pool für Schwarze“ gebadet, wie sie sich nun erinnern. Die drei Generationen schwelgen in alten Zeiten: „Obwohl es nur zwei Zimmer hatte, war unser Haus besser als jede Luxuswohnung“, sagt Ravat. Das Sophiatown von früher ist immer noch sein Zuhause. „Allein das Wort lässt das Herz höher schlagen. Wenn ich auch nicht, wie Madiba (Nelson Mandela) immer sagt, ‚Vergeben und Vergessen‘ kann – so habe ich wenigstens die Rückgabe des Namens erlebt. Das ist mein Triumph.“


In der Kunsthalle Wien läuft noch bis 16. April die Ausstellung „Drum: Fotojournalismus aus Südafrika“ mit Bildern der Fotografen Bob Gosani, Ranjith Kally und Jürgen Schadeberg.
www.kunsthallewien.at

Die Literatur- und Kunstzeitschrift wespennest widmet sich in ihrer jüngsten Ausgabe von März 2006 Sophiatown in Interviews, Erfahrungsberichten, Essays und Fotos.
www.wespennest.at

Martina Schwikwoski lebt als freie Journalistin in Johannesburg.

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