Nicht nur alternative Wirtschaftsformen bilden das Wesen der Solidarischen Ökonomie. Dieser Begriff stellt vielmehr einen integralen Gegenentwurf zur Vermarktung des Planeten Erde und seiner Güter, zu Profitdenken und Wettbewerbsmentalität dar. Solidarische Ökonomie ist vielfältig, aber immer an gemeinsamen Grundwerten ausgerichtet.
Die Bilanz nach drei Dekaden neoliberaler Globalisierung: Exklusion, Verarmung, Kriege und damit einhergehende Alarmsignale der Biosphäre, fallende Wasserspiegel, schrumpfende Waldflächen usw. Jetzt geht es nicht mehr nur um Anklagen, sondern vielmehr um Vorschläge, wie diese Situation zu verändern ist. Konzentrationsprozesse und Abhängigkeiten produzieren Krisen.
Immer mehr Menschen erkennen, dass die Zukunft Selbstverwaltung in einem Prozess der Anpassung an die natürlichen Lebensgrundlagen erfordert. Wir können daher gesellschaftliche Organisierungen beobachten, die sich von unten nach oben entwickeln. Im Rückbezug auf die eigenen Wurzeln wird Wissen geteilt und Eigentum erneut gemeinschaftlich selbst verwaltet. Die Gründung und Vernetzung von Gemeinschaftsunternehmen hat Konjunktur. Eine solidarische Ökonomie (SÖ) entsteht. Eingebettet in die Natur, wird der Bezug zum Territorium verteidigt: nicht nur von so genannten Naturvölkern, die das Recht auf Anerkennung ihrer Territorien fordern, sondern auch von denen, die durch die neoliberale Globalisierung an den Rand gedrängt wurden, von BewohnerInnen "abgehängter Regionen", die die endogenen Potenziale vor Ort neu entdecken und entfalten, von ArbeiterInnen insolventer Firmen, die ihre Betriebe in Selbstverwaltung wieder in Gang setzen.
Wie sieht die Alternative aus? Solidarische Ökonomie ist eine andere Art zu produzieren, zu verkaufen, zu konsumieren bzw. zu leben. Indem die Arbeit kollektiv, solidarisch und hierarchiefrei organisiert wird, stellt die Solidarische Ökonomie eine Strategie für die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse dar. Es geht um die nachhaltige Entwicklung der Gemeinschaft und nicht nur weniger Individuen.
In der Solidarischen Ökonomie werden in kooperativer Form lokale Potenziale mit lokalem Bedarf verknüpft, wobei die Solidarität eine große Rolle spielt und das Kapital eine dienende Funktion zu Gunsten der Gemeinschaft einnimmt, weil bei der Regionalentwicklung durch alternative Wirtschaftsstrukturen der Fokus auf den Menschen selbst liegt.
Wichtige Prinzipien sind die Selbstverwaltung, Kooperation, ökologisches Handeln, Gemeinschaftsorientierung der Wirtschaftsunternehmen. Die Einrichtung von regionalen Kreisläufen durch die Besinnung auf die regionalspezifischen Potenziale hat zusätzlich eine ökologisch und sozial stabilisierende nachhaltige Wirkung auf die Region. Die erwirtschafteten Gewinne fließen nicht mehr ab, sondern eine regionale Wertschöpfung kommt zustande.
Um die Vorteile der Solidarischen Ökonomie nutzen zu können, muss gemeinsam über die einzelnen Organisationen hinaus ein Netzwerk der solidarischen Akteure entstehen, damit der Bedarf an hochwertigen Gütern und Dienstleistungen gedeckt werden kann. Zu diesen zählen gemeinschaftliche Organisationen wie Vereine, solidarische Kreditfonds, selbstverwaltete Unternehmen, Produktionsgruppen, Tauschringe, Netzwerke, Regiogeld usw., die folgende Charakteristika aufweisen: Selbstverwaltung, ökologisches Bewusstsein, Kooperation, Wirtschaftsunternehmen, Gemeinwohlorientierung. Bestimmend sind also die Interessen der Mitglieder der Unternehmen, sie haben die Macht innerhalb der Unternehmen inne. Ihre Werte sind gemeinsames Eigentum, individuelle Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit und Demokratie, nach denen sich Politik und Wirtschaftsweise ihrer Unternehmen orientieren. Es geht also nicht mehr um Verträge zwischen Ungleichen, sondern um die Zusammenarbeit von Gleichen, um zu produzieren, zu vermarkten, zu konsumieren oder zu sparen, also um die Gesamtheit von wirtschaftlichen Aktivitäten, um eine Alternative sozialer Inklusion über Arbeit und Einkommen.
Damit nicht nur die Direktoren, sondern alle Arbeiter und Arbeiterinnen dazu fähig sind, gemeinsame Entscheidungen zu treffen, geht es den Unternehmen der Solidarischen Ökonomie um demokratische Prozesse der Vermittlung von Informationen und der gemeinsamen Übernahme von Macht und Verantwortung – in Überwindung von Konkurrenzkampf und individuellen Eitelkeiten.
Solidarische Ökonomie zielt darauf ab, dass die Wahl der Technologien nicht Risiken für Gesellschaft und Natur fördert, sondern verantwortlich unter denen besprochen wird, die inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit fördern wollen, um eine nachhaltige Entwicklung einzuleiten.
Zielsetzung ist nicht, wie im historischen Verlauf der Genossenschaftsbewegung, eine Zentrierung auf das Unternehmen, sondern Vernetzung, Kettenbildung und Kooperation, die über die betriebliche Ebene hinaus geht und ganze Regionen einschließlich ihrer Kommunen bis hin zu den Staaten erfasst. Solidarische Ökonomie ist ein politökonomisches Projekt der Demokratisierung, der Humanisierung und des Erhalts der Vielfalt von Kulturen und Ökosystemen.
Die systemsprengende Praxis ist attraktiv, das lernen wir von den sich entwickelnden alternativen Finanzierungs- und Bildungsmechanismen, manchmal auch von einer Mischung von beiden in Gemeinschaftsbanken und bei staatlichem Aufkauf kleinbäuerlicher Produktion für die Schulen. Viele Re-Regionalisierungsprozesse sind beredte Beispiele hierfür. Wir lernen es von den groß angelegten Strategien der Genossenschaften mit vielen verschiedenen AkteurInnen, die Produzenten erneuerbarer Energien, Kommunen und KonsumentInnen zusammenspannen.
Wir nehmen wahr, dass sich in der "Charta der neuen Kommunen" Italiens ein kollektiver Wille breit macht, für den die Attraktivität dieser solidarischen Ökonomie mehr zählt als das ständig steigende Risiko mit den sich polarisierenden Gesellschaften, steigender Kriminalität und Analphabetismus inmitten der Regionen, die sich einstmals als Wiegen der Kultur sahen. Wir sehen es auch in den entstehenden Märkten "Tue das Richtige" für Fairtrade-Handel in Italien, die einen massenweisen Zustrom auslösen und zu Zentren der Jugendkultur werden. Man entdeckt, dass erneut eine Übergangszeit ansteht, in der man sich in der Tradition der utopischen Sozialisten wahrnimmt.
Die Geschichte eines Widerstands: In jeder seiner Etappen, an jedem seiner Wirkungsorte entfaltete der Kapitalismus sein Streben nach Kapitalakkumulation – ohne Rücksicht auf externalisierte Kosten wie soziale Not und zum Teil irreversible Zerstörung von Ökosystemen – und rief soziale Widerstandsbewegungen, neue AkteurInnen und Handlungsalternativen hervor, die Selbstverwaltung und Selbstbestimmung einforderten. Mit zunehmendem Konzentrationsprozess des Kapitals und mit der Polarisierung der Gesellschaften steigerten sich die Rückwirkungen kapitalistischer Eingriffe in das gesellschaftliche Naturverhältnis, so dass sie heute die Lebensbedingungen auf dem ganzen Planeten in Mitleidenschaft ziehen. Selbständig denkende, an ethischen Prinzipien orientierte soziale Gruppen orientieren sich um in Richtung einer langfristigen, Zukunft sichernden, nicht-kapitalistischen Produktionsweise.
Die Bewegung der Solidarischen Ökonomie verändert sich im Verlauf der einzelnen Etappen des Kapitalismus. Hier folgen ein paar historische Schlaglichter.
Ende des 18. Jahrhunderts: Zu Beginn der Industrialisierung Ende des 18. Jahrhunderts traten englische Arbeiter und Arbeiterinnen in Konkurrenz zu ihren Arbeitgebern, indem sie den Aufbau von Genossenschaften planten. Sie gehörten zur Arbeiterbewegung, gingen jedoch einen anderen Weg als jene, die sich in Gewerkschaften innerhalb der kapitalistischen Betriebe organisierten. Die Prinzipien, nach denen sie sich organisierten und die Regeln, die sie sich gaben, sind Grundsteine der Solidarischen Ökonomie, auch wenn diese sich in den späteren Etappen des Kapitalismus weiterentwickelt hat.
Streiks führten zur Gründung von Genossenschaftsgesellschaften. Gemeinsam investierten Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften und ihre Mitglieder in Produktionsgenossenschaften. Die Mehrheit vertrat die Auffassung, dass Konsumgenossenschaften stets mit Produktionsgenossenschaften verknüpft zu sein hätten. Aber diese in der Genossenschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts entwickelten Prinzipien wurden durch die Dominanz der kapitalistischen Entwicklung verdrängt, auch die Verteilung der Überschüsse an die Mitglieder wurde eingestellt. Und überdies verloren die Mitglieder der Produktionsgenossenschaften das Recht, die Leitung zu wählen. Fazit: Man hatte das gesellschaftliche Projekt vorübergehend aus den Augen verloren.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen in Deutschland Genossenschaften, um die Krise der Arbeitslosigkeit, Epidemien und Ernteverluste zu überleben. Jeder Kredit für produktive Investitionen wird von zwei Mitgliedern übergeben und wird nach drei Monaten fällig. Man braucht Nachbarn, die bürgen. In der Bank der selbstverwalteten Armen hat jeder eine Stimme, unabhängig von der Menge der Anteile. Die Versammlung wählt einen Supervisionsrat, der über die Kredite wacht. Der Rat wählt eine Leitung (Präsident, Schatzmeister, Sekretär). Herrmann Schulze Delitsch (1808-1883) reist in alle Städte und bringt den Leuten bei, wie man Volksbanken einrichtet. 1865 wird die Deutsche Genossenschaftsbank gegründet. Doch im Lauf der Zeit werden die ursprünglichen Prinzipien immer mehr aus den Augen verloren.
Solidarische Ökonomie und der Staat: In Norditalien gab es Ende des 19. Jahrhunderts noch immer Großgrundbesitz mit einer hohen Zahl von LandarbeiterInnen und daneben kleine HandwerkerInnen und Genossenschaften. Erstere hatten sich in starken Landarbeitergewerkschaften zusammengetan, letztere fanden sich 1886 in dem sozialistischen Genossenschaftsverband Legacoop und 1919 in der christlichen Genossenschaftskonföderation Confocoop zusammen.
Die auf Selbstbestimmung und gegenseitige Hilfe gegründeten Organisationen stellten also in Italien bei Beginn des Industrialisierungsprozesses einen weit verbreiteten und organisierten Teil der Arbeiterbewegung dar – und wurden von der liberalen Regierung Giolitti nach dem Ersten Weltkrieg gefördert. Nach dem Zweiten Weltkrieg verankerte der italienische Staat die Unterstützung genossenschaftlicher Wirtschaft im Artikel 45 der Verfassung: "Die Republik anerkennt die gesellschaftliche Funktion der Genossenschaft mit Selbsthilfecharakter und ohne die Zielsetzung des privaten Gewinnstrebens. Das Gesetz fördert sie und begünstigt ihr Wachstum mit den dafür geeigneten Mitteln und garantiert ihren Charakter und ihre Zielsetzungen durch entsprechende Kontrollen."
In der Umsetzung des Verfassungsauftrages wurde unter anderem 1971 das Gesetz zur staatlichen Förderung genossenschaftlicher Unternehmung festgeschrieben. 1985 verabschiedete das italienische Parlament das Marcora-Gesetz zur Förderung von Unternehmen und Sicherung der Beschäftigung durch die Übernahme der insolventen Betriebe in genossenschaftlicher Form.
Die Weltsozialforen als Impulsgeber: Die Sozialforen, in denen die verschiedenen sozialen Bewegungen und Gruppen zusammenkommen, die eine andere Welt für möglich halten, haben ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass gemeinsame Strategien aufgebaut werden können.
2001 wurde erstmalig das Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre einberufen, zu dem 16.000 Menschen aus 117 Ländern kamen. Dort bildete sich die erste internationale Arbeitsgruppe "Solidarische Volksökonomie und Selbstverwaltung", in der mit 1.500 Personen die Selbstorganisation der ArbeiterInnen und die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte von Arbeit und Einkommen diskutiert wurden. Dabei wurde die Solidarische Ökonomie als Werkzeug des "Empowerment" und des sozialen Wandels definiert, als die "Wirtschaft der Basis". Es ist die Zivilgesellschaft, die die Solidarische Ökonomie aufbaut, sodass staatliche Ressourcen lediglich eine Ergänzung der eigenen Aktionen darstellen. Beim Weltsozialforum 2006 in Caracas und 2008 in Mexiko-Stadt wurde die weltweite Zusammenarbeit der Menschen aus dem Sektor der Solidarischen Ökonomie weiter vertieft.
Clarita Müller-Plantenberg ist Professorin für Soziologie an der Universität-Gesamthochschule Kassel, wo sie das Fachgebiet Soziologie der Entwicklungsländer und die Lateinamerika-Dokumentationsstelle leitet. Seit 1966 zahlreiche Forschungsaufenthalte in Lateinamerika, Autorin vieler Bücher zur Entwicklungssoziologie.
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